Und dann muss unser Coiffeur gehen…

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Artikel
Verfasst durch Doris Bianchi

Nein zum Missbrauch der Verfassung, nein zur Durchsetzungsinitiative

Die Durchsetzungsinitiative wird sich auf die Sozialversicherungen und deren ausländische Leistungsbeziehende fatal auswirken. Denn nun führt auch der "Sozialmissbrauch" zur Ausweisung. Dieser aber ist schnell mal geschehen - auch ohne bösen Willen.

Vor zwei Jahren nahm eine knappe Mehrheit die Masseneinwanderungsinitiative an. Danach wurde schnell klar, dass die Auswirkungen des Begehrens zuvor nur oberflächlich diskutiert worden waren. Dasselbe sollte sich bei der Durchsetzungsinitiative nicht wiederholen.

Sozialmissbrauch: neu ein Verbrechen

Die Durchsetzungsinitiative stelle bloss sicher, dass kriminelle Ausländer/innen rasch aus der Schweiz ausgewiesen werden. So deren Autoren. Das Volksbegehren wird aber viel weitreichender wirken, was uns alle negativ treffen wird. Sie verletzt zentrale Prinzipien unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens wie die Menschenrechte und die richterliche Überprüfung von Entscheiden. Die Durchsetzungsinitiative wird sich aber auch auf unser Sozialversicherungssystem auswirken. Unsere Bundesverfassung wird einen neuen Straftatbestand erhalten: den Sozialmissbrauch. Was heisst das? Wer kann sich da schuldig machen?

Es ist klar: Wer Leistungen von Sozialversicherungen unrechtmässig bezieht, ist zu bestrafen. Unser Sozialversicherungsrecht kennt bereits viele Strafbestimmungen, welche die Täter/innen hart anfassen. Auch unser Strafgesetzbuch ahndet den Betrug scharf. Und die vom Parlament beschlossene Umsetzungsgesetzgebung zur Ausschaffungsinitiative führt den Straftatbestand des Sozialmissbrauchs ein. Mit der Durchsetzungsinitiative jedoch wird der Sozialmissbrauch zum Verbrechen erhoben. Ein Verbrechen, das aber nur von Ausländer/innen begangen werden kann. Denn die neue Verfassungsbestimmung über den Sozialmissbrauch richtet sich ausschliesslich an ausländische Staatsangehörige. Vor dem Gesetz wären in der Schweiz nicht mehr alle gleich. Das stellt uns auf die Stufe von Unrechtsstaaten.

Arzt vergisst Meldung - raus!

Eine Ausländerin oder ein Ausländer, der sich eines Sozialmissbrauchs schuldig macht, soll ab einer Schadenssumme von Fr. 300 automatisch ausgeschafft werden. Ohne Wenn und Aber, ein einziger Verstoss genügt. Wer nun glaubt, dass damit einzig IV-Betrüger und BMW-fahrende Sozialhilfebezüger im Visier stehen, der täuscht sich. Die Durchsetzungsinitiative definiert als Sozialmissbrauch auch Bagatellfälle. Sobald eine Sozialversicherungsleistung unrechtmässig bezogen wird, liegt ein Sozialmissbrauch vor. Böswilligkeit, Bereicherungsabsicht oder fiese Tricks sind dabei nicht nötig. Es genügt Unachtsamkeit und Unkenntnis der Rechtslage. Angesichts unseres komplexen Sozialversicherungssystems kann ein unrechtmässiger Bezug einer Leistung schnell mal passieren. Betroffen wären davon Ausländer/innen, die hier bestens integriert sind, die arbeiten und Familie haben. Beispiele:

  • Ein deutscher Arzt erhält eine Kinderzulage für seine Tochter, die aufs Gymnasium geht. Nach der Matur entscheidet sich die Tochter, vor dem Studium ein Jahr lang im Ausland zu jobben. Der Vater vergisst den Ausbildungsunterbruch zu melden und bezieht weiterhin die Kinderzulagen, obwohl er kein Anrecht darauf hätte. Er hat so einen Sozialmissbrauch begangen. Die Folge bei Aufdeckung: automatische Ausschaffung nach Deutschland.
  • Eine kanadische Musikerin wird Mutter und erhält eine Mutterschaftsentschädigung von der Erwerbsersatzordnung. 8 Wochen später nimmt sie ein Engagement für 10 Aufführungen eines Musicals an. Sie unterlässt es, dies der Ausgleichskasse zu melden und bezieht weiterhin die Mutterschaftsentschädigung. Auch da droht die Ausschaffung nach Kanada.
  • Ein portugiesischer Teilinvalider kann sein Pensum als Verkäufer um 10% erhöhen. Er vergisst diese Veränderung in seinen wirtschaftlichen Verhältnissen der IV-Stelle zu melden und bezieht die unveränderte IV-Rente. Dadurch begeht er einen Sozialmissbrauch. Bei Aufdeckung wird er nach Portugal ausgeschafft.

Chaos bei den Sozialversicherungen

Auch die Sozialversicherungsbehörden sind von der Durchsetzungsinitiative betroffen. Sie müssten eng mit den Strafverfolgungsbehörden kooperieren. So müssten etwa Pensionskassen diesen unverzüglich melden, wenn ausländische Versicherte eine Rentenleistung unrechtmässig beziehen. Für die Pensionskassen bedeutet dies, dass sie zuerst die Nationalität ihrer Versicherten in Erfahrung bringen müssten. Ein riesiger bürokratischer Aufwand. Dasselbe müssten die Unfallversicherer, die Krankenkassen und andere Sozialwerke tun. Zudem hätten sie die ausländischen Versicherten über die Rechtsfolgen eines unrechtmässigen Leistungsbezugs zu informieren. Der Vollzug des neuen Straftatbestandes wäre extrem aufwändig und schwierig. Fazit: Es mangelt uns nicht an Gesetzen, um den Sozialmissbrauch in der Schweiz zu ahnden. Eine weitere Verschärfung, wie sie die Durchsetzungsinitiative verlangt, führt zu Apartheid-Recht und würde bestens integrierte Ausländer/innen in ihrer Existenz treffen. Vielleicht unsere Lebenspartnerin, unseren Arbeitskollegen, unseren Nachbarn, unsere Tennispartnerin, unseren Coiffeur, unseren...

Zuständig beim SGB

Julia Maisenbacher

Secrétaire centrale

031 377 01 12

julia.maisenbacher(at)sgb.ch
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