Daniel Lampart

Foto: © Yoshiko Kusano für den SGB

 

«Im reichsten Land der Welt entsteht ein Prekariat»

Blog Daniel Lampart

Interview mit dem Magazin des Tagesanzeiger, erschienen am 11. März 2021

Die Fragen stellte Bruno Ziauddin (Das Magazin)

Bevor wir in die Details gehen: Was ist Ihr Eindruck von der generellen Stimmung unter Arbeiterinnen und Arbeitern nach über einem Jahr Corona?

Daniel Lampart: Ich würde zwischen den beiden Wellen unterscheiden. In der ersten Welle sind viele extrem erschrocken. Sowohl in Bezug auf ihre Gesundheit – wie gefährlich ist dieses Virus? – als auch aus ökonomischen Gründen, da die Krise gewissermassen von hinten gekommen ist.

Von hinten?

Meist kommt eine Rezession von der Industrie oder vom Bau her. Bis sie dann, sagen wir, eine Kulturinstitution erreicht, ist sie meist wieder durch. Diesmal war der Musikerverband einer der ersten Verbände, die ich am Telefon hatte. Ich habe zuvor noch nie mit dem Musikerverband über die Konjunktur gesprochen! Das zeigt, wie stark Corona auf den Dienstleistungssektor geschlagen hat. Dieser hatte Krisen und Rezessionen dieser Grössenordnung kaum gekannt. Das war brutal, das System war nicht darauf vorbereitet. Bei der Kurzarbeit mussten wir innert Tagen Lösungen heranwürgen, um Existenzen zu sichern.

Und wie sieht es jetzt aus, am Ende der zweiten Welle?

Viele sind in einer Abwartehaltung. Man möchte nicht zu viel über die Situation nachdenken, hofft einfach, dass sich endlich alles normalisiert. Andere haben Stress. Weil sie arbeitslos geworden sind oder weniger Einkommen haben.

Wie macht man eigentlich während einer Pandemie Gewerkschaftsarbeit?

Das ist eine gute Frage. Es ist nicht leicht, den Kontakt zur Basis aufrechtzuerhalten. Im Normalfall sind wir in den Betrieben, machen Versammlungen, reden direkt mit den Leuten. Jetzt gilt es, viel zu telefonieren oder Videokonferenzen abzuhalten. Aber das hat nicht die gleiche Qualität. Erschwerend kommt hinzu: Demos und Protestaktionen sind ebenfalls nicht möglich.

Würde denn Anlass bestehen?

Auf jeden Fall. Der Druck ist gross, gewisse Themen sichtbar zu machen, etwa die 80 Prozent Lohnersatz für jene in Kurzarbeit. Denn das bedeutet nichts Anderes, als dass 20 Prozent des Lohns fehlen. Gerade den Geringverdienenden tut das weh. Im Normalfall würden wir dieses Problem auf die Strasse tragen.

Durch die Pandemie haben die Situationen abgenommen, in denen sich Menschen aus verschiedenen Schichten begegnen, etwa beim Anstehen in der Kantine eines Grossbetriebs. Ihr Eindruck: Hat das Homeoffice die Kluft zwischen jenen im Büro und jenen, die mit den Händen arbeiten, vergrössert?

Ich denke, dass diese These zutrifft. Neulich habe ich mit einer Kaderfrau eines grossen Schweizer Unternehmens telefoniert. Sie und ihr Partner sassen in ihrer grosszügigen Wohnung im Homeoffice. Das einzige Problem schien zu sein: Was macht man, wenn die Putzfrau kommt? Das ergibt dann schon eine spezielle Weltsicht. Generell stellen wir fest, dass jene, die von der Krise besonders betroffen sind, für die Meinungsmacher oft unsichtbar sind. Man wohnt nicht im selben Quartier, die Kinder gehen auf andere Schulen. Ich hatte schon ziemlich schlimme Erlebnisse mit Leuten aus der sogenannten Elite.

Zum Beispiel?

Ein Manager, intelligenter Typ aus gutem Haus, eine halbe Million Franken Jahresgehalt. An einem Apéro sprachen wir über den Wohnungsmarkt in Zürich, und ich sagte, dass sich ein Elektriker auf dem freien Markt keine Familienwohnung in der Stadt mehr leisten kann – Elektrikerlöhne beginnen bei weniger als 5000 Franken. Der Manager erwiderte: «Schon möglich, aber der muss ja nicht unbedingt in der Stadt wohnen.» Ich war fassungslos, mit welcher Selbstverständlichkeit er das gesagt hat. Und zwar nicht, um mich zu ärgern, sondern einfach, weil für ihn klar war, ein Elektriker gehört nicht in seine Welt.

Ich möchte von Ihnen erfahren, wie es jenen ergeht, die nicht im Homeoffice arbeiten …

… wobei man sehen muss, dass Homeoffice etwas sehr Heterogenes ist. Wenn Sie Kreditkarten oder Versicherungspolicen verkaufen, dann bekommen Sie strenge Vorgaben und werden kontrolliert. Vor allem in der ersten Welle war der Stress extrem.

Wieso?

Die quantitativen Vorgaben wurden beibehalten, gleichzeitig fehlten bei vielen daheim die technischen Voraussetzungen, um in gewohnter Weise arbeiten zu können, sodass es beinahe unmöglich wurde, die gesetzten Ziele zu erreichen. Jetzt in der zweiten Welle wurde das Homeoffice besser organisiert, aber Probleme bestehen nach wie vor. Gerade für jene, die neu in einem Betrieb anfangen, ist es schwierig. Im Normalfall kommt der Vorgesetzte und fragt, wie es einem geht, oder man schnappt sich einen Bürokollegen für einen Kaffee oder ein Mittagessen und findet so langsam in den Job hinein. Jetzt sitzt man allein daheim …

… und hofft, dass der Arbeitgeber die Unkosten für Strom, Laptop und Büromöbel anstandslos vergütet.

Nicht jeder Arbeitgeber kommt seiner Verantwortung und Fürsorgepflicht in gleichem Mass nach. Es geht jedoch nicht nur um die unmittelbaren Kosten. Wir hören zunehmend von gesundheitlichen Beschwerden, die durch das Homeoffice verursacht werden. Masseure haben markant mehr Zulauf von Menschen mit Rückenschmerzen, weil im Homeoffice die ergonomischen Voraussetzungen nicht so gut sind wie im Büro. Man hat einen schlechteren Stuhl, verharrt in der gleichen Haltung, weil etwa keine Kolleginnen und Kollegen da sind, zu denen man sich umdrehen kann. Gerade für Familien in kleinen Wohnungen kann Homeoffice eine grosse Belastung bedeuten – Partnerschaften werden schwer strapaziert oder gehen sogar in die Brüche.

Wechseln wir zu jenen, die nicht im Büro sitzen. Wie präsentiert sich die Lage auf dem Bau?

In der ersten Welle war es besonders stressig, weil auf dem Bau viele Leute aus Ländern arbeiten, die stark von Corona betroffen waren. Sie bezogen ihre Infos über Verwandte oder die Medien ihrer Heimatländer und haben nicht verstanden, warum wir in der Schweiz weiterarbeiten. Auf gewissen Baustellen in Genf, aber auch im Tessin und in Zürich hat das bis zu Streikdrohungen geführt. Hinzu kam die wirtschaftliche Unsicherheit.

Baustellen wurden aber kaum geschlossen.

Trotzdem wurde in der ersten Welle weniger gebaut. Zum Teil lag das an den ausbleibenden Baubewilligungen. Es gab Ämter, die im Homeoffice Gesuche nicht mehr abgearbeitet haben. Auch bei den Arbeitsbewilligungen kam es zu Verzögerungen, weil gewisse Migrationsämter im Lockdown einfach den Laden heruntergelassen haben. Es hiess: Wir sind im Homeoffice, melden sie sich später wieder.

Was waren die Konsequenzen?

Für das Baugewerbe ist es zentral, dass Bewilligungen für ausländische Arbeiter rasch ausgestellt oder verlängert werden. Im Lockdown hatten wir Grenzschliessung und gleichzeitig Migrationsämter, die nicht mehr erreichbar waren. Ich dachte, ich spinne, als ich das gehört habe. Denn das bedeutete, dass jene Ausländer, deren Arbeitsbewilligung abgelaufen war oder die ihre Stelle verloren hatten, ohne Anspruch auf Arbeitslosengelder in der Schweiz festsassen. Und wir reden hier nicht von ein oder zwei Fällen. Das war wirklich schockierend.

Mittlerweile läuft es besser?

Ja, es hat ein Lernprozess stattgefunden, auch bei den Verwaltungen. Allerdings höre ich aus der Romandie, dass die Zahlungsmoral gewisser Ämter abgenommen hat. Das heisst, dass in einer ohnehin angespannten Lage, in der sich die Firmen Sorgen wegen ihrer Liquidität machen, Rechnungen nicht sofort beglichen werden. Die Romands sind uns in der Corona-Krise oft etwas voraus – sowohl was das Ansteckungsniveau als auch die ökonomischen Probleme betrifft. Man sollte achtgeben, dass jetzt nicht Betriebe kaputtgehen, die eigentlich überlebensfähig wären.

Und wie ist heute die Corona-Situation auf den Baustellen?

Die Lage hat sich etwas verbessert, auch weil die Gewerkschaften viel Druck gemacht haben. Die sanitäre Situation – Wasser, Seife, genügend Toiletten – gibt nach wie vor zu reden. Eine Zeit lang waren fehlende Parkplätze ein Thema, da die Arbeiter jetzt in kleineren Gruppen anreisen und es entsprechend mehr Platz für Fahrzeuge braucht. Generell greifen aber die Schutzmassnahmen, man hält Abstand, isst in den Baracken vermehrt in Schichten.

Die Bereitschaft, Masken zu tragen, scheint allerdings nicht besonders gross zu sein.

Wie überall gibt es auf dem Bau solche, die sagen, das sei nur eine einfache Grippe, da müsse man sich keine Sorgen machen. Laut Gesetz ist es Arbeitgeberaufgabe, für die Einhaltung der Maskenpflicht zu sorgen. Das ist grundsätzlich gut so, aber die Sache hat einen Haken: Wir Gewerkschaften haben Sicherheitsbeauftragte und Vertrauensleute, die unter ihren Arbeitskolleginnen und -kollegen Glaubwürdigkeit besitzen, auf dem Bau und anderswo. Diese wurden nicht in die Kontrollen miteinbezogen. Das müsste man nach der Krise anschauen, denn es ist immer so: Man kann herumbefehlen, aber es funktioniert besser, wenn man die Leute dort abholt, wo sie stehen.

Nächste Branche: Wie sieht es im Detailhandel nach einem Jahr Ausnahmezustand aus?

Ein Teil der Geschäfte war bis vor Kurzem geschlossen, was im besten Fall Kurzarbeit bedeutete, zudem haben viele Leute den Job verloren, weil sie befristet angestellt waren. Die Situation ist also klar schlechter als vor einem Jahr. Und zwar auf ohnehin tiefem Niveau. Im Detailhandel arbeiten viele Teilzeit. Je nachdem, wie man rechnet, liegt der effektive Durchschnittslohn zwischen 3600 und 3900 Franken.

Das ist sehr wenig.

Aber die Realität. Neulich hatte ich ein Gespräch mit einem gelernten Verkäufer, der bei einem grossen Schweizer Möbelhaus arbeitet. Mitte dreissig, keine Kaderfunktion, aber ein tragender Mitarbeiter seiner Filiale. Als ich ihn fragte, ob er eine Familie gründen wolle, meinte er: «Mit meinem Lohn von nicht mal 4500 Franken? Vergiss es».

Immerhin, die Grossverteiler haben bei Kurzarbeit den vollen Lohnausgleich bezahlt.

Stimmt, Coop zum Beispiel hat aufgestockt. Bei der Migros brauchte es in der zweiten Welle allerdings Druck von uns. Und ein Grossteil der Geschäfte zahlt den Angestellten meist bloss achzig Prozent ihres sowieso schon tiefen Lohns. Zudem stellt sich mancherorts ein weiteres Problem, der Jojo-Effekt.

Was ist darunter zu verstehen?

Nehmen wir eine Firma wie Terlinden, auch wenn die Textilreinigung nicht zum Detailhandel gehört. Die Mitarbeiterinnen erzählen mir: Wenn die Büroleute ins Homeoffice geschickt werden, dann führt Terlinden Kurzarbeit ein, und wenn das Homeoffice aufhört, dann muss wieder mehr gearbeitet werden. Dieses unvorhersehbare Hin und Her ist für die Mitarbeiterinnen belastend, ganz abgesehen von den Lohneinbussen.

Was ist aus gewerkschaftlicher Sicht das wichtigste Thema im Detailhandel, wenn die Pandemie überstanden ist?

Die grosse Frage ist: Wie geht es mit den Anstellungsverhältnissen weiter? Im Detailhandel arbeiten rund 15’000 Personen auf Abruf. Beim Coop in meinem Quartier hängt jeweils ein Schild «Wir suchen flexible Mitarbeiterinnen». Das bedeutet, man arbeitet auf Stundenbasis, wenn es einen gerade braucht. Weil immer wieder Angestellte in Quarantäne sind, ist die Planbarkeit natürlich schwieriger geworden – wer ist einsatzfähig, wer nicht? Das erfordert von jenen im Stundenlohn noch mehr Flexibilität. Wir haben dazu noch keine Statistiken, aber ich gehe davon aus, dass sich durch diese Krise ein unguter Trend fortgesetzt hat: mehr Temporärarbeit, mehr Jobs auf Abruf und somit für mehr Menschen unsichere Arbeitsbedingungen.

Ging man in der ersten Welle in einen Supermarkt, fühlte es sich an, als betrete man eine Katastrophenzone: möglichst rasch einkaufen, schnell wieder raus und hoffen, dass nichts passiert. Aber die Kassiererinnen, die sassen den ganzen Tag drinnen. Für die Ängstlichen unter ihnen muss das ein Albtraum gewesen sein.

Viele Verkäuferinnen und Verkäufer waren verunsichert. Kam hinzu, dass in der ganzen Schweiz Plakate hingen, mit denen die Behörden dazu aufriefen, daheimzubleiben. Restez à la maison! Bleiben Sie zu Hause! Und gleichzeitig sagt dein Arbeitgeber: Du musst arbeiten. Das hat zu grosser Verunsicherung und auch zu Auseinandersetzungen geführt. Gerade für vulnerable Personen oder solche, die daheim jemanden pflegen, der unter keinen Umständen angesteckt werden darf, war das eine ganz schwierige Situation. Von Behördenseite herrschte lange Unverständnis, es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis man eine Lösung fand.

Wie sieht diese aus?

Man kann nun mit einem ärztlichen Attest deklarieren, wenn man weniger exponierte Arbeit verrichten möchte. Und wenn gar nichts mehr geht, besteht die Möglichkeit, daheimzubleiben und Erwerbsersatz zu beziehen. Dadurch haben die Konflikte merklich abgenommen. Generell hat auch im Detailhandel ein Lernprozess im Umgang mit Corona stattgefunden.

Das ist doch erfreulich.

Ja-a.

Sie sind nicht zufrieden?

Im Detailhandel wäre es naheliegend, dass es eine gute Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmerverbänden gäbe, und ich verstehe nicht, wieso das nicht klappt. Mit einzelnen Unternehmen, Coop etwa, funktioniert es. Aber wir haben keinen Branchengesamtarbeitsvertrag, was für das Personal schlimm ist. Es wäre auch im Interesse der Allgemeinheit, dass die Arbeitsbedingungen im Tieflohnbereich verbessert würden. Es ist nicht wünschenswert, wenn Leute zwischen Niedriglohnjobs und Sozialhilfe pendeln, wie das jetzt passiert. Zudem hat sich im Lockdown ein weiteres Problem akzentuiert.

Welches?

Der boomende Onlinehandel mit ausländischen Anbietern wie Amazon oder Zalando. Im letzten Jahr machte Zalando in der Schweiz einen Umsatz von rund 750 Millionen Franken. Der Marktanteil im Segment Kleider und Schuhe dürfte gegen zehn Prozent betragen – und das bei extrem tiefen Löhnen. In den Logistikzentren liegen diese gemäss verschiedenen Quellen bei unter 15 Franken pro Stunde. Das unterläuft das Schweizer Lohnniveau im Kleider- und Schuhhandel, wo sich ein Mindestlohn von 22 Franken ziemlich gut etabliert hat.

Reden wir über die Reinigungsbranche: Unbenutzte Grossraumbüros bedeuten weniger Arbeit, korrekt?

Das ist auf jeden Fall so. Es wird massiv weniger geputzt, und das heisst für viele: Kurzarbeit. Dabei reden wir von Löhnen von knapp über 20 Franken pro Stunde, manchmal sogar darunter. Da spitzt sich die ökonomische Lage für die Betroffenen schon sehr zu. Zudem lässt sich an der Reinigungsbranche eine weitere ungute Entwicklung ablesen.

Welche?

Wir haben zu Beginn des Gesprächs über die Separierung der Gesellschaft geredet. In den Neunzigern sass die Reinigungsequipe eines Grossbetriebs beim Weihnachtsessen immer mit am Tisch. Heute ist das nicht mehr der Fall.

Wieso?

Weil alles outgesourct wird. Damals stellten die Grossbanken oder die Basler Pharma die Leute direkt an – Kantinenmitarbeiter, Hauswarte, Kurierdienste und eben Reinigungspersonal. Heute werden diese Arbeiten an Drittfirmen vergeben. Eine der Konsequenzen ist, dass in den Grossfirmen Nischenarbeitsplätze verloren gehen. Wenn jemand beispielsweise psychische Probleme hatte und in der ursprünglichen Funktion nicht mehr einsetzbar war, dann fand sich für diese Person meist eine andere Aufgabe, etwa im Hausdienst. Vielleicht zu einem tieferen Lohn, aber immerhin: Die Person war in den Betrieb integriert. Das ist mit Outsourcing nicht mehr möglich. Diese Menschen und ihre Lebensrealitäten werden zunehmend unsichtbar.

Was ist aus gewerkschaftlicher Sicht das wichtigste Thema für die Reinigungsbranche, wenn die Pandemie überstanden ist?

Nachdem die Grossbanken die Reinigung ausgelagert hatten, gingen die Löhne gemäss unseren Schätzungen um bis zu fünfundzwanzig Prozent runter, denn es ist klar: Eine Bank zahlt ganz andere Mindestlöhne als ein Reinigungsinstitut. Zentrales Anliegen ist somit, die Branche lohnmässig zu entwickeln. Der Vorteil ist, dass wir einen verbindlichen Gesamtarbeitsvertrag mit Mindestlöhnen haben, der von den Reinigungsfirmen mitgestaltet worden ist. Die sozialpartnerschaftliche Zusammenarbeit ist erstaunlich gut, weil ein gemeinsames Interesse besteht, dem Marktdruck durch die Grossfirmen zu widerstehen und Lohndumping zu limitieren.

Zum Gastgewerbe: Da erübrigt sich die Frage, wie sich die Lage nach einem Jahr Pandemie präsentiert.

Es ist brutal. Im Gastgewerbe und der Hotellerie arbeiten viele auf befristeter Basis oder im Stundenlohn. Die Realität sind nicht nur tiefe Löhne, sondern auch schwierige Arbeitsverträge. Selbst absolute Tophäuser haben die Verträge der Befristeten auslaufen lassen und das Pensum der Studenlöhner sofort auf null gesetzt. Die Arbeitslosigkeit hat sich fast verdoppelt, daneben sind viele in Kurzarbeit. Was dabei vergessen geht: Nebst der Lohneinbusse von zwanzig Prozent fehlt dem Servicepersonal auch noch das Trinkgeld.

Nicht nur das Personal, auch die Wirte trifft es hart.

Viele Lokale haben sich ein Bein ausgerissen, was die Schutzmassnahmen angeht. Ein Beizer hat mir erzählt, was ihn eine einzige Plexiglasscheibe kostet: 200 bis 300 Franken. Der Bund forderte die Restaurantbetreiber auf, Schutzkonzepte zu erstellen, etliche haben daraufhin mehrere tausend Franken investiert, aber dann hiess es: Ihr müsst trotzdem zumachen. Das hat in dieser Branche, die eh wenig Reserven hat, zu grossem Unmut geführt. Und die Angestellten, die sitzen jetzt einfach daheim.

Und machen was?

Wenn ich rumfrage, dann ist es so wie überall: Den einen fällt es leichter, sich zu beschäftigen, den anderen weniger. Die besseren Arbeitgeber ziehen ihre Leute einmal im Monat zusammen oder rufen an. Gewisse Hotels machen zudem beim «Sleep & Dine»-Programm mit, damit die Küche wenigstens ein bisschen läuft. Auch für die Lehrlinge ist das wichtig.

Reicht aber nicht.

Zum Teil werden Lehrlinge in Spitalküchen geschickt. Und in besseren Hotels lässt man sie auch mal fürs Personal kochen. Aber klar, das sind Notlösungen.

Über welche Branche sollen wir als Nächstes reden?

Unbedingt über den Kurierbereich. Das ist zwar keine klassische Branche, heisst aber bei uns in der Gewerkschaft so. Wenn man jetzt die Restaurants zumacht, und sich die Leute gleichzeitig das Essen von Food-Kurieren nach Hause liefern lassen, dann fördern wir indirekt eine hochproblematische Branche.

Wo liegt aus Gewerkschaftssicht konkret das Problem?

In der Gastronomie und Hotellerie gibt es einen Gesamtarbeitsvertrag. Dieser gewährleistet, dass auch in der Krise Mindestlöhne gelten, er enthält einen 13. Monatslohn, eine eigene Pensionskasse, Regelung im Krankheitsfall und so weiter. Viele Food-Kuriere haben all das nicht. Eine Firma wie Uber Eats basiert unserer Ansicht nach auf Scheinselbstständigkeit, was zu unberechenbaren und zum Teil äusserst tiefen Einkommen führt. Für uns sind diese Kuriere eindeutig angestellt, aber das ist eine ewige juristische Auseinandersetzung. Andere Firmen stellen die Leute zwar an, geben ihnen aber Minischichten à vier Stunden, wodurch das gesicherte Einkommen, wenn Aufträge ausbleiben, sehr gering ist. Und all das bei Stundenlöhnen, die häufig bei 18 Franken liegen.

Viele Kuriere sind jung, haben keine Familie und wollen flexibel arbeiten.

Klar sind Studierende darunter, aber längst nicht nur. Zum Teil sind es Leute, die in dieser Krise unter die Räder gekommen sind und unbedingt einen Job brauchen. Sie finden alle Alterskategorien, viele haben keinen Schweizer Pass. Ich habe Kuriere mit Schrottvelos gesehen, mit denen die meisten Schweizer nicht mal privat herumfahren würden.

Könnte man nicht auch finden: besser einen schlechten als gar keinen Job?

Generell lässt sich sagen, dass die Corona-Krise Effekte hat, die in die Zukunft weisen, etwa die Digitalisierung mit all ihren Vor- und Nachteilen. Auf der anderen Seite gibt es Entwicklungen wie jene bei den Kurieren, die eher in die Vergangenheit führen – tiefere Löhne, schlechtere Arbeitsbedingungen, unsicherere Jobs. Ich finde es beunruhigend, wenn man sieht, wie jetzt im reichsten Land der Welt ein Prekariat gefördert wird. Wenn wir auf die Strasse gehen könnten, würden wir mit Demos und gewerkschaftlichen Aktionen dahinter, denn wir müssen dafür sorgen, dass diese Entwicklung rasch wieder aufhört.

Auch der Versandhandel boomt aufgrund der Pandemie. Wie ist es um diesen Sektor bestellt?

In der Schweiz ist in diesem Bereich die Post dominierend. Das ist ein Vorteil verglichen mit Ländern wie Frankreich oder Deutschland, wo die Post in sogenannten Liberalisierungswellen stark geschwächt worden ist und es viel mehr private Anbieter gibt. Bei uns ist die Situation etwas komfortabler. Natürlich hat Corona zu sehr viel mehr Arbeit und zu Überstunden geführt. Der Pöstler, der in meinem Büro in Bern die Pakete bringt, hat mir erzählt, dass die erste Welle sogar Weihnachten getoppt habe. Sein Lieferwagen sei immer bis oben voll gewesen.

Und jetzt?

Man fing an, die Routen zu verkleinern. Dadurch konnte die Arbeitsbelastung für die einzelnen Zustellerinnen und Zusteller reduziert werden. Gleichzeitig hat es aber dazu geführt, dass die Post mehr Personal einstellen musste …

… was mehr Jobs bedeutet, also Good News sind.

Es bedeutet aber auch, dass sich bei der Post der Anteil an Temporären, gerechnet in Vollzeitstellen, zwischen Dezember 2019 und Dezember 2020 fast verdoppelt hat. Ich vermute, dass das auch bei Galaxus und anderen Privaten, wo wir von den Gewerkschaften leider schlecht drin sind, so gemacht wird. Es sind Zeiten ökonomischer Unsicherheit, man stellt die Leute befristet an oder auf Abruf; gerade bei einer Arbeitsmarktsituation, in der viele froh sind, wenn sie einfach mal irgendwas haben respektive vom RAV hören, dass ein Zwischenverdienst für sie gut ist, weil sonst Straftage drohen.

Ihr Fazit nach dreizehn Pandemie-Monaten?

Ich sehe eine generelle Tendenz zu instabileren Arbeitsverhältnissen. Wenn das in diesem Ausmass sogar bei der Post stattfindet – einem Bundesbetrieb und Marktführer, der ein vorbildlicher Arbeitgeber sein sollte –, dann ist das ein beunruhigendes Zeichen. In der Corona-Krise sind die gesellschaftlichen Gräben grösser geworden. Das muss sich wieder ändern. Wer in der Schweiz arbeitet, muss vom Lohn leben können und darf nicht an den Rand gedrängt werden.

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