Finanzsorgen und steigende Arbeitsbelastung
Die Schweiz ist so reich wie noch nie. Trotzdem leiden viele Erwerbstätige in der Schweiz unter Lohndruck. Ein Fünftel von ihnen wird sogar von ernsthaften Einkommenssorgen geplagt. Die Betroffenen kommen in Geldnot, wenn sie unvorhergesehen 2‘000 Franken für den Zahnarzt oder eine Autoreparatur ausgeben müssen. Doch nicht nur das Geld ist das Problem, sondern auch die stark gestiegene Belastung am Arbeitsplatz. Mittlerweile fühlt sich mehr als ein Drittel der ArbeiterInnen und Angestellten bei der Arbeit häufig oder sehr häufig gestresst. Das auch, weil sie vermehrt ausserhalb der regulären Arbeitszeit arbeiten müssen.
Boni und Individualisierung der Lohnpolitik lassen Lohnschere aufgehen
Alle Erwerbstätigen haben zum höheren Wohlstand in der Schweiz beigetragen. Aber nur eine Minderheit profitiert davon. Die grossen Profiteure sind die Manager und Kader. Ihre Saläre sind in den letzten Jahren stark gestiegen. Heute gibt es in der Schweiz 11‘586 Topverdiener mit einem Jahresgehalt von einer halben Million Franken und mehr. Das sind vier Mal mehr als im Jahr 1997. Auf der Verliererseite stehen die Berufsleute mit einer Lehre. Sie haben in ihren Betrieben viel geleistet. Doch auf dem Lohnkonto herrscht Flaute. Ihre Löhne sind von 2002 bis 2010 nach Abzug der Teuerung sogar leicht gesunken (Medianlohn).
Die Ursachen dieser Lohnexzesse sind vor allem die Bonuszahlungen und die Individualisierung der Lohnpolitik. Die Manager wurden seit den 90er Jahren stärker an den Gewinnen und am Aktienkurs der Firma beteiligt. Damit sie das Unternehmen im Interesse der Aktionäre führen. Sie sollten für die Aktionäre möglichst viel Gewinn machen. Die Gewinne und die Aktienkurse schossen in die Höhe und damit auch die an sie gebundenen Managerboni. Die Einführung der Boni hat den Managern erlaubt, den grössten Teil der höheren Lohnbudgets für sich selber abzuzweigen. Hätten die Firmen klassische Lohnsysteme mit generellen Lohnerhöhungen gehabt, wären die Chefs gezwungen gewesen, dem gesamten Personal mehr Lohn auszuzahlen. Die Lohnschere öffnete sich nicht nur bei grossen Konzernen, sondern auch bei mittleren Betrieben und Unternehmen im öffentlichen Besitz. Seit der Auslagerung der Bundesbetriebe SBB und PTT werden auch diesen Chefs Millionensaläre bezahlt.
Am unteren Ende ist die Lohnverteilung nach wie vor prekär. 437‘200 Lohnabhängige müssen für einen Tieflohn arbeiten (Stand 2010). Das sind 11.8 Prozent aller Arbeitnehmenden. Sie verdienen – auf eine Vollzeitstelle hochgerechnet – weniger als 4000 Franken im Monat (12 Monatslöhne). Viele sind auf Unterstützung angewiesen. Etwa indem die Eltern oder Grosseltern einen finanziellen Zustupf an die Ausgaben leisten oder indem sie sogar zur Sozialhilfe gehen müssen. Obwohl sie voll erwerbstätig sind.
Besonders empörend ist, dass 144‘600 dieser Tieflohn-ArbeiterInnen eine Lehre abgeschlossen haben. Offensichtlich garantiert auch eine drei- oder vierjährige Ausbildung keinen Schutz vor Dumpinglöhnen. Viele solche Negativ-Beispiele gibt es in grossen Kleider- und Schuhgeschäften. Hier haben zwei Drittel der Erwerbstätigen mit weniger als 4000 Franken Lohn eine Lehre abgeschlossen. Den Besitzern der Läden geht es hingegen hervorragend. Sie besitzen nicht selten Milliardenvermögen.
Positiv ist immerhin, dass sich das Tieflohnproblem in der Schweiz im Unterschied zu anderen Ländern nicht weiter verschärft hat. Dank der Kampagne „keine Löhne unter 3000 Franken“ der Gewerkschaften konnten beispielsweise die untersten Mindestlöhne im Gastgewerbe von 2350 Franken im Jahr 1998 auf heute 3400 Franken (13 Monatslöhne) angehoben werden.
Frauen haben 18 Prozent weniger Lohn als Männer. Ein Teil dieses Unterschieds lässt sich darauf zurückführen, dass die Frauen in den Firmen andere Arbeiten ausführen oder weniger häufig in leitenden Positionen sind. Doch selbst wenn man das berücksichtigt, verdienen Frauen bei gleicher Arbeit und Qualifikation über 400 Franken pro Monat weniger als die Männer. Diese Lohndiskriminierung der Frauen ist illegal. Dank starkem Druck der Gewerkschaften konnte sie in den letzten Jahren verringert werden.
Steuer- und Abgabepolitik für die Oberschicht
Die Steuer- und Abgabepolitik spielt eine entscheidende Rolle, wie viel Geld einer Familie oder einer Einzelperson unter dem Strich zum Leben bleibt. Dabei begünstigte die Politik in den letzten Jahren eindeutig die Oberschicht. Die Einkommens- und Vermögenssteuern wurden gesenkt. Am stärksten profitiert haben Haushalte mit einem Millioneneinkommen. Sie zahlen heute rund 30‘000 Franken weniger Steuern als vor 10 Jahren.
Deutlich schlechter ist die Bilanz für die Haushalte mit einem tieferen oder mittleren Einkommen. Zwar wurden auch sie, soweit das bei einem tieferen Einkommen überhaupt möglich ist, steuerlich leicht entlastet. Doch gleichzeitig stiegen andere Abgaben wie Gebühren und indirekte Steuern. Die Krankenkassenprämien schossen in die Höhe. In den Jahren 2000 bis 2010 legten sie um mehr als 50 Prozent zu. Das Budget einer Normalverdiener-Familie wird dadurch mit 3‘600 Franken zusätzlich belastet (teuerungsbereinigt). Die Prämienexplosion hätte mit höheren Prämienverbilligungen oder mit höheren kantonalen Beiträgen an die Spitäler abgemildert werden können. Doch leider wurden die dafür nötigen Gelder für die Steuersenkungen gebraucht.
Auch die Mieten sind stärker gestiegen als die Löhne. Viele Familien in den Agglomerationen haben heute Mühe, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Es bräuchte eine Offensive im gemeinnützigen Wohnungsbau. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die öffentliche Hand und die Genossenschaften bauen weniger Wohnungen. Der Bund reduzierte seine Unterstützung für den gemeinnützigen Wohnbau massiv.
Die Einkommensbilanz nach Abgaben, Krankenkassenprämien und Mieten ist bedenklich: Einkommensstarke Familien hatten 2010 rund 15‘000 Franken pro Jahr mehr zum Leben (teuerungsbereinigt) als im Jahr 2000. Davon können mittlere und tiefe Einkommen nur träumen. Sie hätten es am nötigsten, haben aber nur ein kleines Plus, nämlich 2‘900 bzw. 1‘300 Franken mehr. Bei den Einpersonenhaushalten ist das verfügbare Einkommen sogar gesunken.
Wende in der Lohn- und Einkommenspolitik für gerechte Verhältnisse
Gegen diese Lohn- und Einkommensschere gibt es auf nationaler Ebene grossen Handlungsspielraum. Dass die Globalisierung oder andere national nicht beeinflussbare Faktoren diese Schere geöffnet haben und wir nichts dagegen tun können, ist ein Märchen. Das sagt inzwischen sogar die OECD (2011)[1]. Es kann zwar „Marktkräfte“ geben, die zu einer ungleicheren Lohnverteilung führen. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn durch die Einführung von neuen Technologien (Computer u.a.) höher qualifizierte und besser bezahlte Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt gefragter sind und noch höhere Saläre verlangen können. Doch diese negativen Entwicklungen können national korrigiert werden. In den Ländern, in denen die Gewerkschaften sowie eine aktive Wirtschafts- und Sozialpolitik etwas gegen die aufgehende Lohnschere getan haben, ist die Einkommensverteilung ausgeglichener.
Bei der Steuer- und Abgabenpolitik wären Verbesserungen auf nationaler Ebene einfach. Die Steuersenkungen für Grossverdiener müssen rückgängig gemacht werden. Das führt zu Mehreinnahmen bei der öffentlichen Hand von mehr als 3 Mrd. Franken. Dieses Geld muss für eine gerechtere Finanzierung der Gesundheitswesens (insb. höhere Prämienverbilligungen) und den gemeinnützigen Wohnbau verwendet werden
Die Schweiz braucht eine Wende in der Lohnpolitik:
- Damit alle ihren Anteil am höheren Wohlstand im Land erhalten, braucht es klassische Lohnsysteme mit generellen Lohnerhöhungen. Von der Ideologie der Individualisierung haben fast nur die Kader und Spezialisten profitiert.
- In allen Branchen müssen die Löhne durch Mindestlöhne geschützt sein – vor allem über berufsspezifische Mindestlöhne in Gesamtarbeitsverträgen GAV. Niemand soll weniger als 22 Fr./h bzw. 4‘000 Fr./Mt. (Vollzeit) verdienen (gesetzlicher Mindestlohn). Dank der Gewerkschafts-Kampagne „Keine Löhne unter 3‘000 Franken“ sind die Tieflöhne in der Schweiz seit 1998 deutlich gestiegen. Deshalb haben die tiefen Löhne gerade in der Schweiz mit den mittleren Löhnen Schritt gehalten.
- Es braucht Gesamtarbeitsverträge GAV für alle. Die GAV-Abdeckung ist in der Schweiz ungenügend. Das hängt mit den hohen gesetzlichen Hürden hierzulande zusammen. GAV mit Mindestlöhnen müssen öffentlich gefördert werden. Wie das in anderen Ländern üblich ist. Es ist kein Zufall, dass die Sozialpartnerschaft in den meisten anderen Ländern in Europa entwickelter ist als in der Schweiz.
- Die Lohndiskriminierung der Frauen muss beseitigt werden. Die Bundesverfassung sagt klar, dass Frauen und Männer für gleichwertige Arbeit den gleichen Lohn erhalten müssen. Die Lohndiskriminierung ist illegal.
- Der Arbeitnehmerschutz muss verbessert werden. Eine Arbeitslosenversicherung mit guten Leistungen stärkt den Erwerbstätigen den Rücken, wenn sie sich gegen schlechte Arbeitsbedingungen wehren oder in Lohnverhandlungen stehen.
- Firmen in öffentlichem Besitz sollen keine Löhne über 500‘000 Fr. zahlen (SBB, Post, Kantonalbanken). Bund und Kantone müssen das durchsetzen. Bei den privaten Firmen soll das Verhältnis 1:12 gelten.
[1] OECD (2011): Divided We Stand: Why Inequality Keeps Rising. Paris: OECD Publishing.