Avenir Suisse hat in ihrem Buch zur Mittelschicht («Mittelstand») die Einkommensentwicklung in der Schweiz analysiert und ist zum richtigen Resultat gekommen, dass erstens die Einkommen der Oberschicht stärker gestiegen sind als diejenigen der Mittelschicht. Und dass zweitens die Unterschicht im Vergleich zur Mittelschicht in der Schweiz nicht weiter verloren hat. Falsch sind hingegen die politischen Schlussfolgerungen des durch die Grosskonzerne finanzierten „Think-tanks“.
Die Oberschicht hat sowohl von starken Lohnerhöhungen als auch von Steuererleichterungen profitiert. Das zeigt der SGB-Verteilungsbericht. Die Steuer- und Abgabepolitik hat diejenigen begünstigt, die es am wenigsten nötig haben. Eines der neueren Beispiele ist die so genannte Unternehmenssteuerreform II, von der vor allem reiche Aktionäre profitieren. Damit sich die Einkommenssituation der Mittel- und Unterschicht verbessert, müssten ihre Löhne angehoben und die Steuer- und Abgabepolitik zielorientierter ausgerichtet werden. Steuererleichterungen für die im internationalen Vergleich bereits seit langem tief besteuerte Schweizer Oberschicht sind zum Fenster hinausgeworfenes Geld.
Avenir Suisse macht hingegen den unsinnigen Vorschlag, die einkommensabhängigen Tarife bei den Horten und Kinderkrippen zu reduzieren bzw. abzuschaffen. Dieser Vorschlag wäre für die Mittelschicht verheerend. Es würde sich vor allem für jüngere Mittelschichtsfrauen nicht mehr lohnen, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Das zeigen beispielsweise Zahlen für die Stadt Zürich. Offenbar ist der „Denkfabrik“ der Grosskonzerne hier ein Denkfehler unterlaufen.
Ein ganzer Tag in einer Kinderkrippe in der Stadt Zürich kostet pro Kind rund 100 Fr. (Vollkosten bzw. ohne Subvention). Das wäre daher der Tarif für alle, wenn es keine Subventionen gäbe bzw. wenn die Tarife nicht einkommensabhängig wären. Ein Paar mit zwei Kindern, das seine Kinder einen Tag pro Woche in einem Hort unterbringt, würde dann pro Jahr etwas über 10‘000 Fr. für die Krippe bezahlen. Demgegenüber beträgt der mittlere Bruttolohn einer Frau im Alter von 20 bis 29 Jahren rund 55‘000 Fr. (Vollzeitpensum, Kt. Zürich). Auf eine 20 Prozent-Stelle macht das rund 11‘000 Fr. Lohn. Nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge und Steuern blieben noch rund 9‘000 Fr. Nettolohn. Das wären weniger als die Kosten für die Kinderbetreuung. Ohne einkommensabhängige Tarife für die Krippen müsste somit mehr als die Hälfte der jungen Frauen sogar Geld drauflegen, damit sie einer Erwerbsarbeit nachgehen könnten. Die Erwerbstätigkeit dieser Frauen würde schlagartig sinken.
Avenir Suisse stört sich daran, dass die höheren Einkommen weniger Subventionen erhalten, je mehr sie verdienen. Das trifft in Zürich bis 155‘000 Fr. steuerbares Einkommen zu. Danach erhalten die Haushalte keine Subventionen mehr. Die Kosten für Kinderbetreuung nehmen dann gemessen am zusätzlichen Einkommen ab (degressiver Verlauf). Dennoch bleibt bei diesen Haushalten am Schluss unter dem Strich Geld übrig. Wenn man noch bedenkt, dass ein Paar vielleicht 15 Jahre der 45 Jahre Erwerbsarbeit Kinder zu versorgen hat, so relativiert sich das Problem weiter. Denn wer während der Kinderphase erwerbstätig war, hat über das ganze Leben gesehen einen höheren Lohn (Berufserfahrung u.a.).
Wer sich daran stört, dass die Subventionen mit steigendem Einkommen sinken, muss eine familienexterne Kinderbetreuung verlangen, die kostenlos und für alle zugänglich ist. Wie das bei der Schule bereits der Fall ist. Darüber wäre auch nachzudenken. Vermutlich wird sich die Schweiz in Zukunft so organisieren.