Man erinnere sich: Eine Delegation von (später schändlich gestolperten) Swisslife-Chefs hat im Jahr 2002 den Bundesrat dazu gebracht, den Mindestzinssatz in der beruflichen Vorsorge fast über Nacht zu senken. Dieses Ereignis hat dazu geführt, dass die öffentlichkeit erstmals Kenntnis genommen hat von einem Skandal, der unter den Namen „Rentenklau“ in die Geschichte eingegangen ist. Die Lebensversicherer mussten niemandem Rechenschaft ablegen und haben Jahr für Jahr riesige Summen aus der beruflichen Vorsorge abgeführt. Möglich war das dank eines gesetzlichen Monopols, dank dem Fehlen von entsprechenden Vorschriften und dem Laxismus der Aufsichtsbehörden. Danach wurde in hartem parlamentarischen Ringen eine Gesetzesbestimmung eingeführt, die diesem Rentenklau mit der sogenannten „legal quote“ ein Ende setzen sollte. Die Vorsorgenehmer (hier: die mit Rückversicherungsverträgen an Versicherer gebundenen Vorsorgeeinrichtungen) sollten 90 % der überschüsse erhalten. Was mit überschüssen gemeint ist, war damals allen klar: Nämlich das, was übrigbleibt, wenn man von den Einnahmen alle Ausgaben abzieht.
„Überschüsse“ über Nacht vom Bundesrat uminterpretiert
Riesig waren die überraschung und die Enttäuschung, als die bundesrätliche Verordnung, welche diese Gesetzesbestimmung präzisieren sollte, alles auf den Kopf stellte. Als überschüsse galten nun plötzlich und unlogischerweise die Gesamteinnahmen (oder, leichter verständlich, der Gesamtumsatz). Davon sollten die Vorsorgenehmer mindestens 90 % erhalten – was nichts anderes bedeutet, als dass die Versicherer bis zu 10 % aller Gesamteinnahmen (Prämien, Kapitalerträge, technische Gewinne) für sich behalten dürfen. Oder, in den Worten der Gesetzesverdreher: Massgebend war nun die „Bruttomethode“ statt der ursprünglich gewollten „Nettomethode“. Der Unterschied zwischen den beiden Methoden beträgt mehrere hundert Millionen bis über eine Milliarde Franken pro Jahr – Geld, das letztlich den Versicherten fehlt. Ihre Renten fallen entsprechend kleiner aus. Kommt dazu, dass das wenige Geld, das den Vorsorgeeinrichtungen nach der bundesrätlichen Berechnungsmethode überhaupt noch zusteht, ihnen nur zu einem geringen Teil auch ausbezahlt wird. Der grösste Teil wird in einem Fonds parkiert, aus dem die Versicherer sich wiederum bedienen können (siehe Beitrag im SGB-Newsletter 16/08). Dass an den abstrusen Formulierungen im Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) und der Aufsichtsverordnung (AVO; früher in einer Vorgängerverordnung geregelt) etwas nicht stimmen konnte, war rasch klar. Von der gewählten Methode war im Laufe der Arbeiten zur VAG-Bestimmung nie die Rede gewesen. Alle Versuche, diese abstruse Berechnungsmethode auf parlamentarischem Wege zu ändern, waren jedoch erfolglos. Der von Versicherungsvertretern unterwanderte Bundesrat und das Bundesamt der Privatversicherer (heute: Finma) blieben hart. Die armen Versicherer würden pleite gehen, war ihre Begründung. Die Lobbyisten der Privatassekuranz verwendeten einen Teil der den Versicherten vorenthaltenen Gelder für grosszügige Aktionen gegenüber Parteien und Parlamentariern. Infolgedessen kam keine parlamentarische Mehrheit zustande, um den vom Bundesrat abgesegneten Raubzug zu verhindern.
Bundesrat: Gesetzesbruch!
Franco Saccone von der Universität Genf hat seine Masterarbeit diesem Thema gewidmet. Er hat in einer handwerklich hervorragenden Arbeit[1] untersucht, ob die Verordnungsbestimmungen gesetzeskonform sind oder nicht. Er ist nach allen Regeln der Kunst vorgegangen und hat die jeder Juristin und jedem Juristen geläufigen, vom Bundesgericht x-fach bestätigten Auslegungsmethoden angewandt. Er kommt zum Schluss: Egal, welche Auslegungsmethode man anwendet, die in der Verordnung verwendete „Bruttomethode“ ist in jedem Fall illegal. Der Bundesrat hat das Gesetz nicht eingehalten. Er hätte sich an die vom Parlament gewollte und im Gesetz auch sprachlich eindeutig verankerte Nettomethode halten müssen. Nur Überschüsse sind überschüsse – Gesamteinnahmen sind Gesamteinnahmen, nicht überschüsse!
Ist Gerichtsurteil nötig oder gibt der Bundesrat nach?
Was bedeutet dies nun konkret? Um den fortgesetzten, milliardenschweren Rentenklau der Versicherer und des Bundesrats nun endlich zu beenden, gibt es zwei Wege: Der eine besteht darin, dass eine konkret betroffene Vorsorgeeinrichtung die entsprechende Lebensversicherungsgesellschaft einklagt und dabei geltend macht, dass die Verordnungsbestimmungen, auf welche sich diese bei der Berechnung der überschuss-verteilung stützt, gesetzeswidrig sind. In diesem Fall geht der Milliarden-Raubzug vermutlich bis zu einem Bundesgerichtsurteil weiter, dauert also noch während einigen Jahren an. Der zweite, schnellere, besteht darin, dass der Bundesrat die Blamage vermeidet und die Verordnung korrigiert. Das wäre seine Pflicht, denn der Bundesrat muss geltende Bundesgesetze einhalten. Das wäre im Interesse der Versicherten und „das Mindeste“ – die Versicherten sind schon so lang ausgeplündert worden, dass nun endlich ein Ende sein muss. Der Bundesrat hat es nun also in der Hand, seine Ehre zu retten!
[1] Zusammenfassung publiziert in der SZS, Schweizerische Zeitschrift für Sozialversicherung und berufliche Vorsorge, 1/2009, unter dem Titel: „Participation aux excédents en matière de prévoyance professionelle: légalité de la méthode de calcul basée sur le rendement?“