Die Schweiz kann die Europäische Sozialcharta ohne Gesetzesänderungen ratifizieren. Zu diesem Schluss kommt der Bundesrat in einem Anfang Juli veröffentlichten Bericht. Damit erhält die Debatte über die Ratifizierung dieses Pfeilers zum Schutz der Menschenrechte in Europa neuen Schub. Es wird auch Zeit, denn was für die Schweiz eigentlich eine Formsache sein müsste, dauert nun schon fast 40 Jahre.
Die Idee hinter der Sozialcharta ist einfach: Sie soll in ganz Europa, zusammen mit anderen Rechtstexten, Mindeststandards für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte setzen. Zusammen mit der Konvention für Menschenrechte (EMRK) bildet die Charta eines der Hauptinstrumente des Menschenrechtsschutzes auf unserem Kontinent. Nachdem die Mitglieder des Europarates diesen Vertrag 1961 abschlossen, ist ein Land nach dem anderen beigetreten und hat den Text ratifiziert. Mittlerweile würden die Standards überall in Europa gelten, von Portugal bis Russland und von Island bis Gibraltar, wären da nicht ein paar weisse Flecken auf der Landkarte: So haben die Schweiz, Liechtenstein, Monaco und San Marino die Charta zwar unterzeichnet – der Bundesrat tat dies bereits 1976 -, aber seither nie ratifiziert. Das ist ein völkerrechtliches Kuriosum, denn die Ratifizierung wurde in der Zwischenzeit zu einer Voraussetzung, um dem Europarat beizutreten. Da würde es der Schweiz – Europarat-Mitglied seit 1963 – gut anstehen nachzuziehen.
Freie Wahl der sozialpolitischen Instrumente
Konkret soll die Sozialcharta die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Mindestrechte garantieren. Sie umschreibt Rechte des Individuums u.a. in den Bereichen Bildung, Beschäftigung, soziale Sicherheit und Nichtdiskriminierung. Den Mitgliedsstaaten steht jedoch frei, wie diese Mindeststandards erreicht werden sollen. Der sozialpartnerschaftliche Dialog ist genauso möglich wie der Weg über die Gesetze. Eine Harmonisierung der sozialpolitischen Instrumente ist ausdrücklich nicht vorgesehen. Ausserdem können Privatpersonen die Durchsetzung der Mindeststandards auch nicht mittels individuellen Beschwerden einfordern.
Wie der Bundesrat in seinem Bericht nun festhält „erfüllt die Schweiz aus rechtlicher Sicht die Mindestanforderungen für die Ratifikation“. Umso mehr als die 1996 revidierte Sozialcharta „à la carte“ ratifiziert werden kann und Vorbehalte möglich sind. Die Voraussetzungen zur Ratifizierung sind damit gegeben.
Wichtiges Zeichen gegen innen und aussen
Der SGB wird sich in der nun anstehenden Debatte dafür einsetzen, dass die Schweiz endlich diesen Weg beschreitet und bei internationalen Grundrechts-Ratings künftig besser abschneidet. Es wäre ein wichtiges Signal nach aussen. Denn gerade für einen wirtschaftlich stark vernetzten Kleinstaat ist ein weites Vertrags- und Beziehungsnetz wichtig – seit der EU-kritischen Abstimmung vom Februar 2014 mehr denn je. Indem sich die Schweiz als rechtsstaatlich moderner Staat positioniert, läuft sie auch nicht Gefahr, einmal mehr ohne Not auf einer „Schwarzen Liste“ zu landen.
Auch gegen innen wäre eine Ratifizierung der Sozialcharta für viele Menschen in der Schweiz ein wichtiges Symbol. Denn sie enthält für besonders verletzliche Personengruppen wie Junge, Behinderte oder ältere Menschen programmatische Schutzbestimmungen und würde die in den Gesetzen bereits bestehenden Sozialstandards zusammenfassen, bzw. klar und verständlich präsentieren. Für Menschen, die sich in der Gesellschaft häufig allein gelassen fühlen, ist ein solches Zeichen nicht zu unterschätzen. So würden auch die Integrationsbemühungen der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter erleichtert. Aus diesem Grund macht sich etwa Avenir Social, der Berufsverband der Sozialen Arbeit in der Schweiz, für eine Ratifizierungn stark.
Erste Zeichen können die Parlamentarierinnen und Parlamentarier bereits im Herbst setzen, etwa in der zuständigen Delegation der Eidgenössischen Räte in der parlamentarischen Versammlung des Europarates sowie in der Aussenpolitischen Kommission des Ständerates.