In der abgeschlossenen Wintersession behandelte der Nationalrat die IV-Revision 6b (2. Massnahmenpaket). Dabei hat er Augenmass walten lassen und auf extreme Leistungskürzungen verzichtet. Denn die Zahlen der IV entwickeln sich klar positiv.
Die ersten Evaluationsergebnisse der 5. IV-Revision bestätigen, dass die IV aus den Schulden rauskommt. Der Sanierungsplan zielte auch auf einen Kulturwandel ab: Durch Früherfassung und eine breite Palette von neuen Integrationsmassnahmen sollte die Wiedereingliederung begünstigt werden. Die 5. IV-Revision hat den Umbau der IV zu einer Eingliederungsversicherung massgeblich unterstützt. Die Anzahl neuer Renten ist seit dem Jahr 2003 um fast 50 Prozent zurückgegangen, die Anzahl laufender Renten nimmt seit 2006 kontinuierlich ab. Im Gegenzug meldeten die IV-Stellen im Jahr 2011 rund 11‘500 Fälle erfolgreicher beruflicher Eingliederung, also fast doppelt so viele wie im Jahr 2007 mit rund 5‘800 Fällen. Aus der Evaluation geht zudem hervor, dass das Wirkungspotenzial der 5. IV-Revision noch nicht ausgeschöpft ist. Etliche IV-Stellen könnten ihre Massnahmen insbesondere für Personen mit tiefem Ausbildungsniveau verstärken.
Die erste Evaluation der 5. IV-Revision zeigt jedoch nur eine Seite der Medaille. Die Neurentenquote der IV hängt nicht nur von der Eingliederungspraxis, sondern vor allem von der Handhabung der Rentenprüfungen ab. Zusammen mit der Förderung der Eingliederung hat die IV die Rentenprüfungen verschärft. Es häufen sich Beanstandungen über die ärztlichen Dienste der IV. Diese Seite der Medaille wird allzu oft vergessen.
Die Ausgaben für die IV wurden so stark gesenkt, dass diese immer näher bei den eingenommenen Beiträgen liegen. Gleichzeitig hat die Zusatzfinanzierung über die vorübergehende Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,4 Prozent die Einnahmen wesentlich erhöht. Mitte 2012 erzielte die IV dadurch einen Überschuss von 230 Millionen Franken. Beide Entwicklungen werden per Ende 2012 anhalten bzw. sich noch verstärken. Die IV-Sanierung ist im vollen Gang.
Wieder Luft – und Gestaltungsraum
Gemäss den aktuellen Finanzszenarien des Bundes wird die IV in Zukunft auch ohne Leistungskürzungen Überschüsse machen. Leistungskürzungen sind daher unter finanziellen Gesichtspunkten gar nicht nötig. Sozialpolitisch wären die Leistungskürzungen für die Betroffenen sehr hart. Bereits heute ist ein grosser Teil der IV-Bezüger auf Ergänzungsleistungen angewiesen.
Diese Ausgangslage hat den Bundesrat bewogen, die IV-Revision 6b in zwei Vorlagen zu splitten. Der Nationalrat ist dem Vorschlag in der Wintersession gefolgt. Er hat die Revisionsvorlage deutlich abgeschwächt. Eine erfolgreiche Mitte-Links-Allianz konnte sich in wesentlichen Punkten durchsetzen.
Als erstes ist die Mehrheit dem Plan von Bundesrat Berset gefolgt und hat die Kürzungen der Kinderrenten und der Reisekosten aus der Revision ausgeklammert. Das Parlament könnte aber später darauf zurückkommen. Etwa wenn sich die Finanzlage der IV nicht so entwickelt wie angenommen.
Stufenloses Rentensystem, aber volle Rente ab 70 %
Die IV-Revision 6b soll das heutige System mit Viertelrenten, halben Renten, Dreiviertelrenten und Vollrenten in ein stufenloses Rentensystem überführen. Anders als der Bundesrat und der Ständerat will aber der Nationalrat, dass eine volle Rente wie heute bereits ab einem Invaliditätsgrad von 70 Prozent zugesprochen wird und nicht erst ab 80 Prozent. Damit konnte eine gravierende Abbaumassnahme abgeschwächt werden. Die Kürzung der Vollrente für die Invaliden mit einem Invaliditätsgrad von 70 bis 79 Prozent hätte zu markanten Einkommenseinbussen geführt. Denn diese Personen haben keinerlei Aussicht auf die Ausschöpfung der Resterwerbsfähigkeit.
Der Nationalrat hat – anders als zuvor der Ständerat – hingegen beschlossen, das neue Ren-tensystem auch für laufende Renten einzuführen, falls die betroffene Person einen IV-Grad von über 50 Prozent hat und unter 55 Jahre alt ist. Es drohen also weiterhin Kürzungen von laufenden Renten. Für den SGB darf ein neues Rentensystem nur auf Neurenten eingeführt werden. Eine andere Vorgehensweise würde die Rechtssicherheit zu stark aushöhlen.
Erfreulicherweise fand die Kürzung der Taggelder für Personen ohne Unterhaltspflichten keine Mehrheit im Nationalrat.
Schuldenbremse
Von grosser Relevanz für die gesamte 1. Säule war der vom Bundesrat vorgeschlagene Interven-tionsmechanismus (Schuldenbremse). Dieser hätte bei einem IV-Fonds-Stand von unter 40 % einer Jahresausgabe automatische Beitragserhöhungen und die Sistierung der Rentenanpassung gebracht. Der Nationalrat lehnte einen solchen Automatismus sehr deutlich ab.
Der Interventionsmechanismus bei der IV hat die Wirkung eines Pilotprojekts für die AHV. Eco-nomiesuisse propagiert die Schuldenbremse bei den Sozialversicherungen als Voraussetzung für jeden Reformprozess. Die bürgerlichen Parteien sind am Vortag der IV-Revisions-Beratung vor die Medien getreten und haben die Notwendigkeit eines Interventionsmechanismus für die Altersvorsorge unterstrichen. Sie blieben jedoch vage bezüglich Ausgestaltung. Diese Unbestimmtheit zeigte sich auch bei der Beratung der IV-Vorlage. Die bürgerlichen Parteien fahren keine gemeinsame Linie: Während die FDP und die SVP nur eine ausgabenseitige Interventionsregel wollen, stehen die Grünliberalen und die CVP für eine „opfersymmetrische“ Regel ein, also für Massnahmen bei den Einnahmen und Ausgaben. Diese Spaltung hat dazu geführt, dass der Automatismus gestrichen worden ist. Dies ist als klares Zeichen zu werten, dass automatische Anpassungen bei den Sozialwerken heute nicht mehrheitsfähig sind.
Abgeschwächt, aber noch nicht genug
Die gesplittete Vorlage der IV-Revision 6b geht für die Differenzbereinigung zurück an den Ständerat, der voraussichtlich in der Frühjahrssession 2013 darüber beraten wird. Die Chancen stehen gut, dass die IV-Revision 6b deutlich abgeschwächt wird. Es darf aber nicht übersehen werden, dass der Versicherungsschutz verschlechtert wird. So ist etwa die vorgeschlagene strengere Betrugsbekämpfung zwar im Parlament unbestritten, aber materiell an der Grenze der Verletzung von rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätzen. Auch das neue stufenlose Rentensystem schafft, vor allem auf die laufenden Renten angewendet, Ungerechtigkeiten.