Das Spiel ist aus dem Trauerspiel „Krankenversicherung“ bestens bekannt: Die Sozialkommissionen von National- und Ständerat sind bürgerlicherseits von Krankenkassen und Privatversicherern dominiert. Diese verhindern sinnvolle Reformen und sind nur darauf aus, die Gewinnmöglichkeiten für sich zu vergrössern, zulasten der Versicherten und der Patienten. Genau dasselbe Spiel läuft nun bei der oblig. Unfallversicherung (UV) ab. Wenn diese Räte bei der Krankenversicherung änderungen, die für die Versicherten einschneidend sind, noch mit den stetigen Kosten- und Prämienerhöhungen „rechtfertigen“ können, so ist dies beim UVG überhaupt nicht der Fall: Die UV ist gut finanziert, Sparmassnahmen sind nicht nötig. Und dennoch wollen die Lobbyisten der Krankenkassen und Privatversicherer die Versicherungsleistungen verschlechtern. Mit dem Ziel, mehr Spielraum für privatrechtliche Zusatzversicherungen zu schaffen, die für sie selbst mehr Gewinn abwerfen. Für die Versicherten und die Arbeitgeber aber führt dies zu höheren Prämien und tieferen Leistungen nach Unfällen.
Höchstversicherter Lohn runter: Leistungen runter, Prämien rauf?
Heute müssen jeweils 92-96 % der Arbeitnehmenden zum vollen Lohn versichert sein. Das bedeutet unter anderem, dass all diese Arbeitnehmenden nach Unfällen Taggelder und Renten im Umfang von 80 % ihres Lohnes erhalten. Technisch erfolgt das dadurch, dass der sog. höchstversicherte Lohn UVG vom Bundesrat periodisch so angepasst wird, dass dieses Ziel erreicht ist. Gegenwärtig beträgt der höchstversicherte Lohn Fr. 126'000 pro Jahr. Auf den ersten Blick mag das nach viel aussehen, im Vergleich etwa zu den viel tieferen Leistungen bei der AHV oder in der beruflichen Vorsorge. Doch es gibt sehr gute Gründe dafür: Bei Berufsunfällen ersetzt die UV die Haftpflicht des Arbeitgebers. Das kann sie nur, wenn fast alle Versicherten auch wirklich gut abgesichert sind gegen die wirtschaftlichen Folgen eines Unfalles. Nun hat die Kommission des Nationalrates auf Antrag von Frau Humbel-Näf (CVP), einer Lobbyistin der Krankenkassen, beschlossen, dass nur noch 85-90 % aller Arbeitnehmenden zum vollen Lohn versichert sein sollen. Die untere Limite von 85 % entspricht heute einem Jahreslohn von 96'000 Franken – der Unterschied ist also gross. Auf den ersten Blick könnte man nun meinen, dass durch eine derartige Senkung nur Arbeitnehmer mit guten Löhnen schlechter fahren würden (tiefere Invaliditäts- und Hinterlassenenrenten und weniger Taggeld als bisher). Das wären etwa 250'000 Versicherte, was nicht wenige sind. Doch dem ist nicht so. Weil der höchstversicherte Lohn auch bei der Berechnung verschiedener Leistungen der UV eine Rolle spielt, wären auch viele andere Verunfallte schlechter gestellt als bisher, also auch solche mit kleinen und mittleren Löhnen. Dies vor allem dann, wenn sie infolge eines Unfalls dauerhafte körperliche Schäden erlitten haben (Integritätsentschädigung) oder dauerhaft auf die Hilfe von Dritten angewiesen sind (Hilflosenentschädigung). Vor allem aber wären definitiv alle 3.8 Mio. in der UV versicherten Arbeitnehmenden durch Prämienerhöhungen betroffen: Die höchstversicherte Lohn ist auch nämlich auch die obere Bemessungsgrösse für die Prämien. Eine Senkung des höchstversicherten Lohnes würde netto zu einem Prämienausfall führen, der nur durch eine Erhöhung der Prämiensätze um 2-3 % kompensiert werden könnte. Es müssten also alle Versicherten mehr Prämien für die Nichtberufsunfallversicherung zahlen als bisher, dies trotz schlechteren Leistungen. Auch ihre Arbeitgeber müssten höhere Berufsunfallversicherungsprämien bezahlen als bisher. Trotz diesen höheren Prämien riskieren sie, bei Berufsunfällen für allfällige von der Unfallversicherung nicht mehr abgedeckte Leistungen arbeitsvertraglich oder haftpflichtrechtlich belangt zu werden. Den verunfallten Arbeitnehmenden bliebe teilweise nichts anderes als der gerichtliche Weg übrig – was auch für sie eine Zumutung wäre.
Wem nützt’s? Wer lauert?
Für diese Senkung des höchstversicherten Lohnes und die daraus folgenden Verschlechterungen für die Verunfallten und für alle Arbeitnehmenden und Arbeitgeber haben die Krankenkassen- und Versichererlobbyisten im Nationalrat gar keine Begründung vorzuweisen. Aber wem der Coup nützt, ist in diesem Fall klar: Nämlich den Privatversicherungen und den Krankenkassen. Sie würden den Arbeitgebern privatrechtliche Unfallzusatzversicherungen anbieten. Diese sind teurer als die oblig. Unfallversicherung, weil die Versicherungen freie Hand haben, um höhere Profite herauszuholen. Fazit: Alle Versicherten und alle Arbeitgeber müssten höhere Beiträge bezahlen und hätten dennoch schlechtere Leistungen. Wer die gleichen Leistungen wie heute haben möchte, müsste noch ein zweites Mal drauf zahlen. Die Perfidität geht noch weiter: Während die ca. 40 privaten Unfallversicherer diese Zusatzversicherungen anbieten dürfen und das durch die Senkung des höchstversicherten Lohnes vergrösserte Potential dafür auch nutzen würden, ist das der Suva jedoch untersagt. Gleichzeitig wollen die Lobbyisten der Privatassekuranz der Suva die „Filetstücke“, sprich die risikoärmsten Branchen wegnehmen. Die Suva ist bekanntlich die einzige sozialpartnerschaftlich geführte und nicht profitorientierte Unfallversicherung.
Auch die Beiträge an die Arbeitslosenversicherung würden steigen
Das ist aber noch nicht alles: Weil der höchstversicherte Lohn UVG auch für die Beiträge und die Leistungen der Arbeitslosenversicherung massgebend ist, würden auch dort die Leistungen verschlechtert, und es käme auch dort zu einem Nettoverlust von 130 Mio. Fr. pro Jahr. Die ALV ist bereits heute defizitär, ihr Defizit würde mit dieser Massnahme nochmals vergrössert. Der Spar- und Abbaudruck würde noch grösser.
Abbauorgie
Obwohl die Unfallversicherung solide finanziert ist, will die Privatassekuranz noch mehr Leistungen abbauen. Für bestimmte Unfallfolgen soll erst ab einem Invaliditätsgrad von 40 % ein Anspruch auf Invaliditätsrente bestehen. Das bisherige effiziente Medizinaltarifsystem der Unfallversicherung soll durch das viel teurere und kompliziertere Medizinaltarifsystem der Krankenversicherung ersetzt werden, was zu einem weiteren, absolut unnötigen Kostenschub führen würde. Unfallinvaliden, die ins AHV-Alter kommen, soll die Rente gekürzt werden.