kein Geld in der Tasche

Foto: © AllzweckJack / photocase.de

 

Haushaltsbelastung geht weit über horrende Prämienrechnung hinaus

  • Gesundheit
Artikel
Verfasst durch Reto Wyss

Hintergrund: Selbstzahlungen im Gesundheitswesen

Die Prämien der Krankenversicherung sind horrend hoch und steigen weiter an. Gleiches gilt auch für die direkten Ausgaben der Haushalte für Leistungen inner- und ausserhalb der Grundversicherung. Insgesamt ist die Belastung der Haushalte durch Gesundheitsausgaben im Schweizer System heute derart hoch, dass die Zweiklassenmedizin schleichend zur Realität wird.

Direkte Kostenbeteiligung in der Grundversicherung stark ansteigend

Die Krankenkassenprämien werden im nächsten Jahr ein weiteres Mal stark ansteigen. Mit den Prämiensprüngen 2023 und 2024 wird eine vierköpfige Familie (mit einem Kind über und einem anderen unter 19 Jahren) im nächsten Jahr Prämienrechnungen in der Höhe von insgesamt 15’200 Franken erhalten, was nochmals fast 2’000 Franken mehr sind als im letzten Jahr. In den teuersten Kantonen muss diese Familie gar über 19’000 Franken für Prämien aufwenden – und dies, ohne überhaupt ein einziges Mal eine Gesundheitsdienstleistung in Anspruch genommen oder ein Medikament bezogen zu haben. Tritt ein Krankheitsfall erst einmal ein, kommt es für die Versicherten aber sofort noch viel teurer. Denn in der Schweiz sind nicht nur die Prämien, sondern auch die von den Haushalten verlangten Selbstzahlungen horrend hoch.

Je nach gewählter Franchise müssen die ersten 300 bis 2’500 Franken Behandlungskosten direkt aus der eigenen Tasche beglichen werden. Dazu kommt der Selbstbehalt (10 Prozent der Kosten, manchmal mehr) und die Tagespauschale im Spital. Wie die Prämien, sind in den vergangenen Jahren auch diese direkten Kostenbeteiligungen stark angestiegen. Im Jahr 2005 (seit dann gelten die aktuellen Franchisestufen) betrugen sie pro versicherte Person noch 507 Franken, heute sind es bereits 706 Franken (siehe obenstehende Grafik). Interessant dabei: Im selben Zeitraum hat die effektiv von den Versicherten gewählte Franchise mehr als doppelt so stark zugenommen. Heute beträgt die durchschnittlich gewählte Franchise 1’201 Franken. Hauptgrund hierfür ist ganz einfach, dass aufgrund der stark gestiegenen Prämien immer mehr Versicherte eine höhere Franchisestufe wählen, weil sie dadurch bis zu 1’500 Franken pro Jahr sparen können. Das Problem: Werden sie dennoch krank, wird Gesundheit für sie erst recht unbezahlbar.

Direkte Kostenbeteiligung in der Grundversicherung stark ansteigend

Gemäss Bundesamt für Statistik (BFS) sind fast 20 Prozent der Bevölkerung nicht in der Lage, eine unerwartete Ausgabe in der Höhe von 2’500 Franken zu stemmen. Hat also jemand – um die Prämienlast etwas zu mildern – die höchste Franchise gewählt und wird krank, so bleibt dieser Person womöglich der Zugang zu einer Behandlung de facto verwehrt (trotz monatlich bezahlter hoher Prämie!). Das ist keine Schreckensvision, sondern längst Schweizer Alltag: Kürzlich gaben in einer Sotomo-Umfrage ebenfalls fast 20 Prozent der Bevölkerung an, im letzten Jahr aus finanziellen Gründen auf einen Besuch bei der Ärztin verzichtet zu haben. Oft geht es dabei glimpflich aus und «das Bauchweh vergeht», oft aber auch nicht: dann sind die Folgen mit unnötigem menschlichem Leid und hohen Zusatzkosten gravierend. Das Schweizer Gesundheitswesen ist also nicht nur unsozial finanziert, auch die Zweiklassenmedizin hat längst Einzug gehalten.

Medikamente und Zahnpflege: Milliarden aus der eigenen Tasche

Richtet man den Blick über die Grundversicherung hinaus, ist die Last der Selbstzahlungen im Schweizer Gesundheitswesen für die Haushalte noch um ein Vielfaches höher. Denn zwar ist die Schweizer Gesundheitsversorgung qualitativ sehr hochstehend und der «Leistungskatalog» der Grundversicherung deckt Vieles ab, trotzdem werden viele Leistungen von den Krankenkassen nicht übernommen. An erster Stelle ist hier die Zahnpflege zu nennen: Während in fast allen europäischen Staaten die Krankenversicherung zumindest einen Teil der Behandlungskosten beim Zahnarzt übernimmt, muss in der Schweiz fast alles aus der eigenen Tasche bezahlt werden. Pro Jahr sind dies mittlerweile fast 4 Milliarden (das entspricht fast 450 Franken pro Person). Ein anderer Ausgabenposten sind die Arzneimittel: Obwohl die Versicherten bereits mit vielen Prämienmilliarden für die teuren Medikamente bezahlen (und damit auch die Milliardenprofite der Pharmaindustrie mitfinanzieren), müssen sie darüber hinaus jährlich ebenfalls nochmals fast 4 Milliarden Franken ür Medikamente und «Verbrauchsgüter» selbst übernehmen. Zusammen genommen betragen all diese Selbstzahlungen mittlerweile fast 19 Milliarden pro Jahr – und sie sind über die letzten Jahre ebenfalls stark gestiegen, wie die nachfolgende Grafik zeigt.

Betrachtet man also das gesamte Kostenbild aus Versichertensicht, so kommen zu den mittleren Prämienausgaben von aktuell etwa 5’000 Franken pro erwachsene Versicherte noch Selbstzahlungen von insgesamt 2’200 Franken pro Person und Jahr hinzu, das heisst die Gesamtrechnung erhöht sich um über 40 Prozent! Und das ist eine allgemeine schweizweite Durchschnittsbetrachtung: Für einen älteren, multimorbiden Versicherten in einem Hochprämienkanton ist die finanzielle Situation noch viel gravierender.

Schweiz international ein Negativbeispiel

Dabei ist wichtig festzuhalten: Diese Situation der Finanzierung des Schweizer Gesundheitswesens ist nicht nur gefühlt nicht normal, sie ist es auch im internationalen Vergleich ganz und gar nicht. Während der einkommensabhängig finanzierte Teil der Gesundheitsausgaben in fast allen EU-Ländern gemäss OECD bei rund 80 Prozent liegt (hauptsächlich Steuer- und Lohnbeitragsfinanzierung), kommt die Schweiz nur auf knapp 30 Prozent. Etwa 40 Prozent der Ausgaben werden in der Schweiz durch die einkommensunabhängigen Kopfprämien finanziert und mehr als 20 Prozent durch die erwähnten Selbstzahlungen.

Betrachtet man nur die Selbstzahlungen im internationalen Vergleich (siehe obenstehende Grafik), so sieht man, dass die Schweiz leider einsam an der Spitze steht: Hierzulande müssen die Haushalte durchschnittlich 5.3 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für Gesundheitsausgaben direkt aus der eigenen Tasche bezahlen. Im gesamten EU-Raum sind es 2 Prozentpunkte weniger, und im (ebenso) reichen Luxemburg ist es mit 1.7 Prozent nicht einmal ein Drittel davon.

Politisch drohen weitere Verschlechterungen

Obwohl die direkte Kostenbeteiligung der Schweizer Bevölkerung also schon heute horrend hoch ist, unternimmt das Parlament regelmässig Versuche, diese noch weiter anzuheben. Nun droht etwa die Einführung einer «Gebühr für Bagatellfälle für Spitalnotfallaufnahmen». Die «Begründung» für solch weitere unsolidarische Aufschläge ist immer dieselbe: Gesundheit muss für die Leute noch teurer werden, damit sie endlich damit aufhören, «nach Lust und Laune Leistungen zu konsumieren». Was für ein weltfremdes Bild: Der Gang in die Notaufnahme als spannendes Alternativprogramm zum bequemen Kinoabend?! Abgesehen davon: Wenn es insbesondere auf dem Land an allen Ecken und Enden an Hausärztinnen und Kinderärzten mangelt, bleibt oftmals gar keine andere Wahl als die Notaufnahme. Die geforderten Erhöhungen der Kostenbeteiligung sind daher nicht nur völlig unsozial, sondern auch versorgungspolitisch völlig kontraproduktiv.

Zuständig beim SGB

Reto Wyss

Zentralsekretär

031 377 01 11

reto.wyss(at)sgb.ch
Reto Wyss
Top