Vasco Pedrina

Foto: Unia

 

"Die Suva muss heraus aus der strategischen Falle!"

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Artikel
Verfasst durch Ewald Ackermann

Ex-Suva-Verwaltungsrat, Ex-Unia- und SGB-Co-Präsident Vasco Pedrina zum 100-Jahr-Jubiläum

100 Jahre SUVA - diesen Erfolg darf man feiern, meint Vasco Pedrina, ehemaliger Suva-Verwaltungsrat und Unia-Co-Präsident. Doch die SUVA muss raus der strategischen Falle und in neue Felder vorstossen.

SGB: Vasco Pedrina, du hast dein ganzes Berufsleben mit der Suva zu tun gehabt. Was sind die drei grossen Herausforderungen für die Zukunft der Suva?

Vasco Pedrina: Zunächst einmal: die Suva stellt eine Erfolgsstory dar. Das liegt an ihrer Form als öffentlich-rechtlichen Unternehmen, gemeinsam von den Sozialpartnern gesteuert. Kommen dazu der gute Produktemix mit den drei Bereichen Prävention, Versicherung und Rehabilitation sowie sehr gute Mitarbeitende, die echt stolz sind, für ein solches Sozialwerk zu arbeiten. Die Suva ist heute kerngesund, Ihre Zukunft jedoch ist gefährdet. Wenn die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Suva nicht ändern, dann schnappt die strategische Falle, die ihr gesteckt wurde, auch zu.

Strategische Falle?

In der Revision der Unfallversicherung 1984 kam es zu einem Deal zwischen den Gewerkschaften und den Bürgerlichen. Der ging so, dass der Unfallversicherung neu alle Arbeitnehmenden unterstellt wurden und dass die Versicherung weiterhin sehr gute Leistungen garantierte, etwa Renten von 90 Prozent des letzten Lohnes, was europäisch einen Spitzenwert darstellt. Gleichzeitig wurde auch einer moderaten Ausweitung der Leistungen zugestimmt. Der zu hohe Preis dafür war die Festlegung, das Monopol der Suva auf den zweiten Sektor, also Industrie und Gewerbe, zu beschränken. Das Problem dabei: 1984 beschäftigte der zweite Sektor rund 40 % der Erwerbstätigen, heute sind es nur etwas mehr als 20 %. Da droht eine langsame Ausblutung der Suva. Es ist eine schleichende Privatisierung zugunsten der Privatassekuranz im Gange.

Aber die Suva versichert doch heute immer noch fast 2 Millionen Arbeitnehmende ...

Stimmt, das ist aber weniger als die Hälfte der Erwerbstätigen. Früher versicherte die SUVA 70 Prozent und mehr aller versicherten Beschäftigten. Die absolute Zahl der Versicherten geht nicht rasch zurück, solange die Beschäftigung insgesamt steigt. Die drohenden Umbrüche, teils auch im Rahmen der Digitalisierung, werden da aber für eine Reduktion sorgen. Oder nehmen wir das seit Jahren bekannte Phänomen der Auslagerung: Wenn industrielle Betriebe etwa die Reinigung oder die Verpflegung auslagern, gehen diese Beschäftigten der Suva verloren. Fazit: Die Erosion des zweiten Sektors gefährdet die Suva. Es braucht eine Ausweitung des Suva-Tätigkeitsbereichs. Wir wollten diese Herausforderung bei der UVG-Revision von 2013/16 angehen, kamen aber damit nicht durch. Immerhin haben wir Verschlechterungen verhindert, so etwa die im ersten gescheiterten Anlauf vorgesehene Möglichkeit, dass Teile der öffentlichen Verwaltung zu den Privatversicherern hätten wechseln können.

Was sind denn deine Vorschläge, um aus dieser strategischen Falle zu finden?

Ein erster Vorschlag – den wir vertieft im Rahmen der erwähnten letzten Revision geprüft haben – war, den Suva-Bereich zu vergrössern. Man könnte der Suva alle öffentlichen Verwaltungen oder das Gesundheitswesen oder den kompletten Gross- und Detailhandel unterstellen. Zweiter Vorschlag: ein "Modell Deutschland" einführen. Das hiesse: Das Obligatorium der Unfallversicherung wäre der Suva zugewiesen, die Zusatzversicherung den Privatversicherern. Dieses Modell eröffnet jedoch unwägbare Abgrenzkonflikte. Ein weiteres Modell: Die Suva übernimmt die Taggeldversicherung auch für Krankheiten. Ich glaube, dass die hier erstgenannte Piste der Erweiterung wahrscheinlich die erfolgversprechendste darstellt.

Wieso sollte das Parlament da nun plötzlich einlenken oder anders gefragt: wieso sollte der Rückhalt der Privatversicherer da plötzlich sinken?

Weil die Zahlen eine eindeutige Sprache sprechen. Und zwar für die Suva: Von jedem einbezahlten Franken gehen bei der Suva 95 Rappen an die Versicherten zurück. Nur 5 Rappen werden für die Verwaltung verwandt. Bei den Privatversicherern gehen nur 80 bis 85 Rappen an die Versicherten zurück, mindestens 15 Rappen landen in den Taschen der Versicherer selbst. Das ist ein starkes Argument für die Suva, reicht aber nicht hin bei einem ideologisch so hart umkämpften Thema. Damit komme ich zur zweiten Herausforderung.

Die da wäre?

Wieso gelang es vor 100 Jahren, die Suva zu gründen? Nicht nur wegen dem hartnäckigen Druck der Arbeiterbewegung, sondern auch dank dem sozialen Flügel der Arbeitgeber und der bürgerlichen Kräfte. Der FDP-Nationalrat und spätere Bundesrat Ludwig Forrer war dabei die treibende Kraft. Neoliberalismus und SVP haben leider den sozialen Flügel in den Arbeitgeberverbänden, in FDP und CVP fast erstickt. Das muss sich ändern. Für uns heisst das: die Gewerkschaften und die fortschrittlichen politischen Kräfte müssen den sozialen Druck von unten massiv erhöhen, damit auch bei Unternehmern und bei den Mitte-Rechtsparteien das Bewusstsein für die Notwendigkeit der Bildung eines sozialen Flügels in ihren Reihen wieder wächst.

Und die dritte Herausforderung?

Das sind Sachfragen. Zum ersten ist die Asbestkatastrophe immer noch nicht bewältigt. Hier stellen sich der Suva noch viele Aufgaben, etwa bei der Prävention, bei der Last zwischen den Branchen, die gerechter verteilt werden soll, oder beim Aufbau des neuen Entschädigungsfonds für Asbest-Opfer. Festzustellen ist aber auch, dass die Suva – nach den Wirren der 1970er/80er Jahre – sehr viel geleistet hat und heute als Vorbild in Europa dasteht. Zum zweiten ist die tickende Bombe der psychosozialen Berufskrankheiten zu nennen. Insbesondere der Bereich Prävention ist diesbezüglich schlecht geregelt; eine Zuständigkeit der Suva wäre sehr zu begrüssen. Stichwort Nummer drei: die Digitalisierung. Nehmen wir zum Beispiel den Streit mit Uber, ob die TaxifahrerInnen Selbständigerwerbende oder Arbeitnehmende sind: Die Suva sollte auch für diese Arbeitnehmenden zuständig sein, ohne jegliche rechtliche Auseinandersetzung.

Die Suva feiert dieses Jahr ihren 100. Geburtstag. Eine Möglichkeit, diese Herausforderungen anzupacken?

Auf alle Fälle. Die Gewerkschaften wollen nicht einfach nur feiern. Wir werden die Feiern nutzen, um darauf hinzuweisen, dass die Suva kein Auslaufmodell sein darf sondern sich aus der strategischen Falle befreien muss.

Vasco Pedrina
  • Vasco Pedrina, 1994 bis 1998 SGB-Co-Präsident, 1991 bis 2004 GBH- und GBI-Präsident, 2004 bis 2006 Unia-Co-Präsident, hatte bereits in den 1980er Jahren mit der SUVA zu tun, damals als Sekretär der SGB-Kommission für Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz. Pedrina war die treibende Kraft hinter der Kampagne für das Asbestverbot. Von 2007 bis Ende 2016 war er Mitglied des SUVA-Verwaltungsrates, die letzten 7 Jahre davon als Vizepräsident.

Zuständig beim SGB

Gabriela Medici

stv. Sekretariatsleiterin

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Gabriela Medici
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