Das Leistungsniveau in der Altersvorsorge ist in Frage gestellt

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Verfasst durch Gabriela Medici

Weichenstellungen in der Altersvorsorge erfolgen 2021

Sowohl in der Schweiz wie auch international zeigt die Corona-Krise eindrücklich auf, wie wichtig starke Sozialwerke sind. Dies gilt insbesondere für das Instrument der Kurzarbeit. Stabilität und Sicherheit gibt auch eine intakte Altersvorsorge. Als negatives Beispiel gilt die USA, wo eine schwache und individualisierte Rentenabsicherung dazu führt, dass viele US-AmerikanerInnen auch nach dem Eintritt ins Rentenalter aus finanziellen Gründen weiterarbeiten müssen. Nun zeigt sich, dass Regionen mit höherer Altersarmut häufig auch Gebiete mit höheren Infektionsraten sind. Denn die Betroffenen sind oft in sogenannt essentiellen Berufen wie der Logistik, oder der Betreuung tätig. Forscher empfehlen dem US-Gesetzgeber deshalb zur Pandemiebekämpfung, die Lebenshaltungskosten älterer Personen bei der Ausgestaltung von Konjunkturmassnahmen und Rentenreformen stärker zu berücksichtigen. Eine derart prekäre Rentensituation gilt es in der Schweiz mit allen Mitteln zu verhindern. Doch auch hier reichen die Renten immer weniger zum Leben und der Druck auf die Renten nimmt weiter zu.

Der Schweizerische Gewerkschaftsbund wird sich 2021 neben der Bewältigung der Corona-Krise schwerpunktmässig mit der Altersvorsorge befassen. Denn dieses Jahr werden die Weichen für die materielle Sicherung der laufenden und künftigen Altersrenten gestellt. Jung und Alt sind davon gleichermassen betroffen. Besonders exponiert sind bei den laufenden Reformen jene Arbeitnehmenden, die zu tiefen und mittleren Einkommen arbeiten. Am meisten steht für die Frauen auf dem Spiel: Zum einen können durch den Sozialpartnerkompromiss BVG 21 die skandalös tiefen Frauenrenten rasch und spürbar verbessert werden. Anderseits plant das Parlament eine AHV-Abbauvorlage mit Rentenverlusten von jährlich bis zu 1’200 Franken für die Frauen.

Für BezügerInnen mittlerer Renten sind Coiffeurbesuche ein Luxus

Vor knapp drei Wochen hat das Parlament mit nur zwei Gegenstimmen die Kurzarbeitsentschädigung von Geringverdienenden aufgestockt. Seit wenigen Tagen werden im Covid-19-Gesetz deshalb Einkommen bis 3’470 Franken garantiert. Damit anerkennt das Parlament, dass die Lebenshaltungskosten in der Schweiz so hoch sind, dass Personen mit tieferen Löhnen nicht auf 20 Prozent ihres Einkommens verzichten können, ohne in grössere Bedrängnis zu geraten.

Doch die Kaufkraftprobleme, vor denen im Zuge der Pandemiebekämpfung Personen mit sehr geringen Einkommen geschützt werden sollen, sind für die Hälfte aller Rentnerinnen und Rentner bereits Realität. Denn die mittlere Rente der Personen, die 2018 in Rente gingen, betrug 3’449 Franken pro Monat – AHV- und BVG-Renten zusammen.

Eine Gegenüberstellung dieser Rente mit den gemäss Statistiken üblichen Ausgaben für eine Einzelperson über 65 verdeutlicht, dass davon nach den Steuern, den Krankenkassenprämien und der Miete nicht mehr allzu viel zum Leben übrigbleibt. Restaurant- und Coiffeurbesuche bleiben für viele Rentnerinnen und Rentner ein seltener Luxus. Obwohl sie ein Leben lang gearbeitet haben.

Mittlere AHV- und BVG-Rente 2018             3’449

Steuern                                                              266
Miete und Nebenkosten                                  1’035
Krankenkassenprämie                                       408
Gebühren                                                             25

Verfügbares Einkommen                              1’715

Nahrungsmittel/Getränke/Genussmittel             422
Kleider/Schuhe                                                    59
Gesundheitsausgaben                                       216
Versicherungen                                                  268
Wohnungseinrichtung u.a.                                   96
übrige Haushaltausgaben                                    85
Telefon/Internet/Post u.a.                                     89
Computer/Radio- und Fernsehgeräte u.a.           45
Zeitungen/Bücher/Abos                                       42
Verkehrsmittel                                                    172
Körperpflege u.a.                                                 65

Übrig bleibendes verfügbares Einkommen   156

Restaurants/Hotel                                              133
Unterhaltung/Erholung/Kultur                             212
Geschenke/Spenden                                            40

Quellen: BFS Neurentenstatistik, HABE 2015-2017.

Für viele Frauen bleibt selbst eine Rente in dieser Höhe unerreichbar. Die Medianrente jener Frauen, die sowohl eine AHV- wie eine BVG-Rente beziehen, liegt unter 3’000 Franken pro Monat. Und bei einer Gesamtbetrachtung würde die Rentenhöhe der Frauen noch deutlich geringer ausfallen, denn fast ein Drittel der Frauen erhält gar keine BVG-Rente.

Rentenhöhe muss Ausgangspunkt jeder Reform sein

Gemäss Verfassung sollen die Leistungen der 1. Säule (AHV und IV) den Existenzbedarf angemessen sichern, während die Leistungen der 2. Säule (berufliche Vorsorge BVG) darauf aufbauen und die Fortführung der gewohnten Lebensweise in angemessener Weise zu ermöglichen haben.

Diese soliden Verfassungsziele stehen aber in erschreckendem Widerspruch zu den tatsächlich ausbezahlten Renten. Selbst wenn eine Person alle Voraussetzungen erfüllt und ihr ganzes Erwerbsleben ohne Lücken die gesetzlich geforderten Beiträge einbezahlt hat, muss sie mit einer tiefen Rente rechnen. Denn die gesetzlich geschützten, maximal möglichen Rentenleistungen aus AHV und BVG entsprechen bei einer männlichen Einzelperson im Jahr 2021 einem Betrag von 4’370 Franken pro Monat.

Die überobligatorischen Renten der 2. Säule konnten lange Jahre darüber hinwegtäuschen, dass die Realisierung der verfassungsrechtlich geforderten Altersvorsorge auf halbem Weg stecken geblieben ist. Doch nun sinken die Durchschnittsrenten der 2. Säule bereits seit einigen Jahren – einerseits wegen den tieferen Umwandlungssätzen im Überobligatorium, anderseits wegen der wesentlich geringeren Verzinsung der Vorsorgeguthaben. Sie können den fehlenden gesetzlichen Schutz nicht mehr kompensieren.

Der Bundesrat verschliesst sich dieser Realität, auch wenn er sich prominent für die Erhaltung des Leistungsniveaus in der Altersvorsorge ausspricht. Seine Reformvorschläge zur AHV gehen gar in die gegenteilige Richtung:

Gemessen an der AHV-Medianrente bedeutet die Erhöhung des Frauenrentenalters von 64 auf 65 Jahre für die betroffenen Frauen eine Leistungseinbusse von rund 1’200 Franken pro Jahr. Sofern sie denn überhaupt bis 64 arbeiten und Beiträge einzahlen können, denn die Arbeitsmarktsituation ist für ältere Arbeitnehmerinnen noch schwieriger als jene der Männer.

Obwohl die Minimalrente der AHV 2021 um 10 Franken erhöht wurde, deckt die AHV-Rente systembedingt einen immer kleineren Teil des Lohnes der Neurentnerinnen und Neurentner ab, weil die Renten mit dem Mischindex nur alle zwei Jahre zur Hälfte an die Löhne und zur Hälfte an die Teuerung angepasst werden. Nach Ansicht des Bundesrats soll der Ersatzquotenindex von den anfänglichen 100 Prozent bis 2030 auf 86 Prozent sinken, also um ganze 14 Prozent. Nur die Volksinitiative für eine 13. AHV-Rente bietet hier Gegensteuer.

Rentenverluste in der 2. Säule

Vor fünf Jahren veröffentlichte der SGB zum ersten Mal eine Übersicht über die sinkenden Umwandlungssätze und schwindenden Pensionskassenrenten. Mittlerweile berichten auch Banken und Versicherer fast monatlich über die zusammenbrechenden Renten in der 2. Säule.

Seit mehr als einem Jahrzehnt sind die Versicherten damit konfrontiert, immer mehr in die 2. Säule einzubezahlen und dafür dennoch immer tiefere Renten zu erhalten. 2019 sind die Beiträge zwar leicht zurückgegangen. Dies ist aber auf einen stärkeren Anstieg der Beitragslöhne zurückzuführen. Wäre der Anstieg der Beitragslöhne etwa gleich wie im Vorjahr, wären auch die Beitragssätze gestiegen.

2021 wird der Druck auf die Renten der 2. Säule weiter zunehmen. Viele Pensionskassen haben bereits weitere Senkungen der technischen Zinssätze und der Umwandlungssätze beschlossen. Grund dafür sind die tiefen Zinsen. Tiefe Zinsen sind für die nach dem Kapitaldeckungsverfahren finanzierte 2. Säule besonders schwer zu verkraften. Der Anteil des Kapitalertrags an den Einnahmen der beruflichen Vorsorge ist bereits drastisch gesunken. Während er im Jahr 1987 mit 32.6 Prozent noch dem sprichwörtlichen dritten Beitragszahler entsprach, fiel der Anteil des Kapitalertrags bis 2018 auf 19.9 Prozent. In gleichem Umfang stiegen die Beiträge der Versicherten an die 2. Säule kontinuierlich. Im Jahr 1987 kam auf eine Versicherte rund 2’300 Franken Kapitalertrag (3’400 Franken zu Preisen von 2018). Die Versicherte zahlte durchschnittlich 4’800 (7’000) Franken an Beiträgen, die Arbeitgeberbeiträge miteinbezogen. Im Jahr 2018 waren es 4’333 Franken Kapitalertrag und bereits 13’400 Franken an Beiträgen. Diese Entwicklung ist insofern bemerkenswert, als das Gesamtkapital der zweiten Säule im selben Zeitraum enorm zugenommen hat. Im Jahr 1987 betrug das Kapital rund 158 Milliarden Franken, 2018 waren es bereits 865 Milliarden. So sank der Anteil des Kapitalertrags am Kapital von über 6 Prozent in den 1990er Jahren auf unter 1.9 Prozent 2018.

Insgesamt bewegen sich die Kosten der sozialen Sicherheit in der Schweiz im europäischen Vergleich mit rund einem Viertel des BIP zwar im Mittelfeld der Länder West- und Nordeuropas. Doch betrachtet man die kaufkraftbereinigten Ausgaben pro Kopf, hat die Schweiz die zweitteuerste Altersvorsorge der europäischen Länder.[1] Dies ist umso bedenklicher, als die Ersatzquote der schweizerischen Altersvorsorge jener in anderen Ländern stark hinterherhinkt.

Konkret: wir zahlen massiv mehr für deutlich weniger Leistungen. Dies zeigen sowohl Vergleiche mit OECD-Ländern als auch internationale Übersichten zur Altersvorsorge.[2]

Schlussfolgerungen und Forderungen

Wer ein Leben lang gearbeitet hat, verdient eine gute Rente. Obwohl uns die Verfassung dies seit fast 50 Jahren vorschreibt, sind wir immer weiter davon entfernt. Der SGB ist deshalb überzeugt, dass es jetzt ein starkes Engagement für gute Renten braucht.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie die verfassungsmässigen Leistungsziele der Altersvorsorge erreicht werden können: durch eine Stärkung der AHV, durch bessere Leistungen der beruflichen Vorsorge oder durch eine Kombination von Massnahmen in den beiden Säulen. Was zu bevorzugen ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Einerseits stellt sich die Frage, wie leistungsfähig das Kapitaldeckungsverfahren der beruflichen Vorsorge und das Umlageverfahren der AHV als solche sind. Anderseits sind die Verteilungswirkungen der beiden Vorsorgesysteme unterschiedlich. Angesichts der Ausgangslage ergeben sich für den SGB die folgenden Konsequenzen und Forderungen:

  • Die AHV muss gestärkt werden. Damit die Renten und insbesondere die Frauenrenten zum Leben reichen. Dazu hat der SGB in einer breiten Allianz von Arbeitnehmerverbänden, Parteien und RentnerInnenorganisationen die Volksinitiative für eine 13. AHV-Rente lanciert, die er dieses Jahr einreichen wird.
  • Die laufenden Reformprojekte werden sich an der Höhe der Altersrenten messen lassen müssen. Reformvorhaben, welche zu sinkenden Rentenleistungen führen, sind an der Urne zum Scheitern verurteilt.
  • Die Leistungsziele der Verfassung sollten zu einem möglichst guten Preis erreicht werden. Möglichst hohe Rentenansprüche sollten also mit möglichst tiefen Beiträgen erworben werden. Das Umlageverfahren generiert für die überwiegend grosse Mehrheit der Erwerbstätigen die mit Abstand höchsten Leistungen pro Beitragsfranken. Es braucht deshalb eine Stärkung des Umlageverfahrens in der Altersvorsorge, über die Umlagekomponente im BVG-Kompromiss der Sozialpartner und über eine 13. AHV-Rente in der AHV.
  • Um den zusätzlichen Finanzierungsbedarf in der Altersvorsorge solidarisch zu leisten, braucht es ausserdem einen finanziellen Beitrag der SNB-Gewinne an die AHV-Renten.
  • Der von Banken und Versicherungskreisen propagierte Ausbau der 3. Säule stellt keine Option dar, um die Altersvorsorge zu sichern. Die 3. Säule bietet für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung keine Einkommenssicherheit im Alter.

 

[1]     Vgl. BFS, Panorama «Soziale Sicherheit», März 2020, S. 3.

[2]     OECD, Net pension replacement rates, Men, % of pre-retirement earnings, 2018, data.oecd.org/chart/6d6s; Mercer CFA Institute Global Pension Index 2020, Subindex Angemessenheit.

Zuständig beim SGB

Gabriela Medici

stv. Sekretariatsleiterin

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