AVIG-Revision nicht notwendig – momentanes Gesetz saniert besser

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Verfasst durch Daniel Lampart, SGB-Chefökonom

SESSIONSVORSCHAU: Das geltende Gesetz über die Arbeitslosenversicherung (AVIG) enthält einen automatischen Sanierungsmechanismus. Wenn die Schulden der ALV höher sind als 2.5 Prozent der versicherten Lohnsumme, muss der Bundesrat die Beiträge erhöhen. Das wird im kommenden Jahr der Fall sein. Eine Revision des Gesetzes ist daher nicht notwendig. Sollte das Parlament einen harten Leistungsabbau beschliessen, wird der SGB die AVIG-Revision mit dem Referendum bekämpfen.

Wenn kein Wunder geschieht und die Schweiz keine Konjunkturpolitik betreibt, die diesen Namen verdient, werden im nächsten Jahr deutlich mehr als 200'000 Personen arbeitslos sein. Die Ausgaben der Arbeitslosenversicherung werden stark ansteigen. Ende 2010 wird die Arbeitslosenversicherung aufgelaufene Schulden von rund 9 Mrd. Fr. haben. Für die Revision des Gesetzes (AVIG) führt das zu einer im Vergleich zur Botschaft völlig neuen Ausgangslage. Denn wenn die Schuld der ALV grösser ist als 2.5 Prozent der versicherten Lohnsumme, muss der Bundesrat die Lohnbeiträge um bis zu 0.5 Beitragsprozente erhöhen und das Solidaritätsprozent einführen (Art. 90c). 

Finanzsituation der ALV 2010

Versicherte Lohnsumme

2.5 Prozent der vers. Lohnsumme

Schuldenstand ALV 2010

250 Mrd. Fr.

6.25 Mrd. Fr.

9 Mrd. Fr.

Erhöht der Bundesrat die Lohnbeiträge um 0.5 Beitragsprozente, so nimmt die ALV 1.25 Mrd. Fr. mehr ein. Das Solidaritätsprozent bringt weitere 160 Mio. Fr. Das reicht, um das Loch in der Versicherung von rund 800 Mio. Fr./Jahr zu stopfen und gleichzeitig innerhalb von 10 Jahren die Schulden abzubauen. Die ALV kann finanziell saniert werden, ohne dass eine Revision notwendig ist. Die Sanierung der ALV ist also mit dem geltenden Recht möglich. 

Bereits im Jahr 2006 hätte der Schuldenstand den kritischen Wert überschritten, so dass der Bundesrat auf Anfang 2007 die Beiträge hätte erhöhen müssen. Die Versicherung hätte im Aufschwung saniert werden können. Doch weil das Volkswirtschaftsdepartement das Betriebskapital der ALV abgebaut und die ALV-Schulden damit um 900 Mio. Fr. reduziert hat, wurde der Schuldenstand unter den kritischen Wert gedrückt und die Beitragserhöhung verhindert. Das war ein grosser Fehler. 

Finanzsituation der ALV 2006

2.5 Prozent der vers. Lohnsumme

Effektiver Schuldenstand 2006

Schuldenstand 2006 ohne Senkung des Betriebskapitals

5.6 Mrd. Fr.

4.8 Mrd. Fr.

5.7 Mrd. Fr.

 

 

1. Beitragsseitige Sanierung problemlos verkraftbar

Ein Beitragssatz von 2.5 Prozent ist historisch gesehen moderat. Er liegt deutlich unter dem Beitragssatz von 3 Prozent, der von Mitte der 1990er Jahre bis Mitte 2003 in Kraft war. Zudem mussten die höheren Einkommen ab 1999 zwei Solidaritätsprozente in die ALV einzahlen. 

Konjunkturpolitisch ist eine Beitragserhöhung – insbesondere die Einführung des Solidaritätsprozents – weniger gefährlich als die vom Bundesrat geplanten und die von den Arbeitgebern zusätzlich geforderten Leistungskürzungen. Damit die Konjunktur durch die Sanierung der ALV überhaupt nicht beeinträchtigt wird, müsste der Bund im Jahr 2011 einspringen und die höheren Beiträge übernehmen. Dafür könnte ein Teil der ausserordentlichen Einnahmen des Jahres 2009 verwendet werden. 

2. Leistungsabbau bei ALV wirtschaftlich und sozial gefährlich

Die Schweiz gehört zusammen mit den nordischen Ländern zu den Staaten mit den erfolgreichsten Arbeitslosenversicherungssystemen. Mit einer sozialpartnerschaftlichen Organisation (Marktanteil der Gewerkschaften: 35%) wird eine vergleichsweise tiefe Arbeitslosigkeit erreicht. Im europäischen Vergleich liegt die Schweiz beim Einkommensersatz von durchschnittlich 75% im vorderen Bereich, mit einer durchschnittlichen Bezugsdauer von 18 Monaten belegt sie hingegen nur noch das Mittelfeld. 

Bezugsdauer der ALV im internationalen Vergleich
 (Durchschnitt in Monaten)

Quelle: OECD

Die Leistungen der Arbeitslosenversicherung (ALV) sind von grosser sozialer und volkwirtschaftlicher Bedeutung. Indem die ALV das individuelle Einkommen der Versicherten im Falle von Arbeitslosigkeit sichert, stützt sie in Jahren hoher Arbeitslosigkeit die gesamtwirtschaftliche Kaufkraft. Die Arbeitsintegrationsmassnahmen der ALV helfen, dass eine arbeitslose Person wieder rasch und dauerhaft in den Arbeitsmarkt integriert wird. 

Die gegenwärtige Krise zeigt, wie wichtig eine leistungsfähige Arbeitslosenversicherung ist. Mit der Möglichkeit, die Kurzarbeitsdauer zu verlängern und die Zahl der Taggelder auf 520 Tage zu erhöhen, können zusätzlich Arbeitslosigkeit bzw. Aussteuerungen verhindert werden. 

Neue Studien[1] (z.B. der OECD) zeigen, dass eine Arbeitslosenversicherung mit guten Leistungen (u.a. einer ausreichenden Bezugsdauer und Ersatzquote) die Beschäftigungschancen und die Lohnentwicklung von Arbeitslosen dauerhaft verbessert. Die Arbeitslosen haben mehr Zeit, eine ihren Fähigkeiten entsprechende Stelle zu finden. Eine schlechte Arbeitslosenversicherung hingegen zwingt Arbeitslose dazu, möglichst rasch eine Stelle anzunehmen. Und zwar auch eine Stelle, bei der sie ihr Know-how nicht einbringen können. Das erhöht die Gefahr, dass z.B. früheres Wissen entwertet wird. Länder, die die Leistungen der Arbeitslosenversicherungen kürzen, können deshalb Produktivitätseinbussen erleiden. Bei den Leistungen für jüngere Personen ist ein besonders drastischer Abbau vorgesehen. Das wird dieses Problem noch verstärken: statt dass Jugendliche besonders, etwa in Form von Beschäftigungs- oder Weiterbildungsmassnahmen, zu betreuen, werden sie noch rascher in die Sozialhilfe abgedrängt und somit beruflich weitgehend aufgegeben. 

Der Leistungsabbau bei der ALV wird zu deutlich mehr Aussteuerungen führen. Das Bundesamt für Statistik hat vor kurzem eine Studie zur Lage der Ausgesteuerten präsentiert. Sie zeigt, dass auch nach 4 bis 5 Jahren nur 64 Prozent der ausgesteuerten Personen wieder eine Stelle haben. Diese Personen haben deutlich schlechtere Arbeitsbedingungen. Sie verdienen rund 25 Prozent weniger als das Mittel der Arbeitnehmenden in der Schweiz. Dieser Unterschied ist zu einem beträchtlichen Teil auf die Aussteuerung zurückzuführen. Und sie arbeiten viel häufiger in befristeten Stellen (12%), als Temporäre (6%), oder sie leisten Arbeit auf Abruf (14%).

Arbeitsbedingungen von Erwerbstätigen 4 – 5 Jahre nach einer Aussteuerung (in Prozent)

Quelle: BFS[2]


[1] OECD (2009): Employment Outlook 2009.
 Bell, D. und D. Blanchflower (2009): What Should Be Done About Rising Unemployment in the OECD? IZA Discussion Paper 4455.
 OECD (2007): More Jobs but Less Productive? The Impact of Labour Market Policies on Productivity, OECD Employment Outlook.

Gangl, M. (2004): Welfare States and the Scar Effects of Unemployment: A Comparative Analysis of the United States and West Germany, American Journal of Sociology, Volume 109(6), S. 1319–64.   

[2] BFS (2009): Ausgesteuert - was nun? Analyse der Wiedereingliederung von Personen, die von der Arbeitslosenversicherung ausgesteuert wurden. 

 

Ebenfalls in der Sessionsvorschau: 11. AHV-Revision und Postreform.

 

Zuständig beim SGB

Daniel Lampart

Sekretariatsleiter und Chefökonom

031 377 01 16

daniel.lampart(at)sgb.ch
Daniel Lampart
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