Keine Stimme zu viel, keine zu wenig: Mit genau den nötigen 101 Stimmen hat der Nationalrat das Reformpaket Altersvorsorge 2020 (AV 2020) gutgeheissen. Eine Stimme weniger, und fünf Jahre Arbeit wären vernichtet gewesen. Bis zur letzten Minute lobbyierte der Arbeitgeberverband für ein Nein. Lieber ein Absturz als eine Erhöhung der AHV-Renten, lautete die Devise.
Doch der Arbeitgeberverband und seine rechtsbürgerlichen HelferInnen, die bis zuletzt härtesten Widerstand gegen die AV 2020 leisteten, können ihre Niederlage nicht akzeptieren. Sie wollen die Vorlage nun an der Urne versenken. Und damit die AHV schwächen statt stärken. Und den Weg frei räumen für Rentenalter 67.
Während Jahren haben sie gepredigt, dass es endlich eine Reform brauche, nun sind sie - vor allem die Arbeitgeber in der Deutschschweiz - wild entschlossen, bei der Volksabstimmung am 24. September einen Scherbenhaufen zu hinterlassen. Woher rührt dieser Widerstand? Welche Ziele verfolgen die Arbeitgeber und ihre Verbündeten aus SVP und FDP?
Rentensystem à la SVP
Fast 20 Jahre ist es her, dass die SVP offenlegte, wie sie sich Altersvorsorge der Zukunft vorstellt. An ihrem Kongress vom 4. März 2000 forderte die Partei, den totalen Umbau der AHV: Statt dass die Reichen wie heute dank der Umlagefinanzierung einen starken solidarischen Beitrag an die Renten des Grossteils der Bevölkerung leisten müssen, wollte die SVP mehr "Eigenverantwortung" der Versicherten. Konkret sollte die Finanzierung der AHV nach dem Kapitalsparverfahren ähnlich funktionieren wie bei den Pensionskassen oder, noch unsolidarischer, beim privaten Sparen.
Auch heute ist die in der AV 2020 vorgesehene Erhöhung der AHV-Renten um 840 Franken jährlich für Alleinstehende und bis zu 2712 Franken für Ehepaare ein Alptraum der neoliberalen SVP-Führung. Obwohl mit den Bauern ein wichtiger Teil der Parteibasis besonders stark von der AHV profitiert. Doch die solidarische Finanzierung der AHV und generell alle solidarischen Elemente bei den Sozialversicherungen sind ihnen ein Gräuel.
Selten hat ein Vorschlag die SVP derart in Rage gebracht wie die Erhöhung der AHV-Renten. Jedes Argument war ihnen recht, um die AHV-Erhöhung zu bekämpfen. Der Walliser SVP-Nationalrat Raymond Clottu verstieg sich nach der entscheidenden Abstimmung am Westschweizer Radio zur Behauptung, es sei ungerecht, wenn Menschen die nur wenig oder gar nichts in eine zweite Säule einbezahlt hätten - also vor allem Frauen, Bauern und KleingewerblerInnen - nun einen AHV-Zuschlag erhielten. Lieber die Altersvorsorge an die Wand fahren, als die AHV stärken, lautet auch jetzt noch die SVP-Losung.
Alles, nur nicht die AHV stärken
Als vor zwei Jahren SVP und FDP bei den Wahlen zulegten, jubilierte der Schweizerische Arbeitgeberverband. Die Arbeitgeber sahen den Zeitpunkt gekommen, ihre neoliberalen Rezepte durchzusetzen und den Sozialstaat zurückzustutzen. Und in der Altersvorsorge das individuelle Sparen auszubauen. Obwohl das heute fast nicht mehr rentiert und vor allem den Banken und Versicherungen nützt.
Für die Arbeitgeber ist "ein Aufblähen der AHV-Leistungen" schlicht "nicht vorstellbar". Alles, nur nicht die AHV stärken - in letzter Minute zauberte der beim Arbeitgeberverband fürs Dossier Altersvorsorge zuständige Martin Kaiser eine "Lösung" aus dem Hut, um den Ständeratskompromiss mit der AHV-Rentenerhöhung zu verhindern: Ausgleich der wegen der Senkung des Umwandlungssatzes tieferen Renten in der zweiten statt in der ersten Säule. Der zweiten Säule, die wegen der andauernden Tiefzinsphase kein sicheres Rentenniveau mehr garantieren kann, sollten Milliarden zufliessen. Das hätte massiv mehr gekostet und deutlich weniger gebracht hätte, als der vom Ständerat vorgezogene Ausgleich in der ersten Säule.
Profitgier ist die Ursache
Woher kommt diese Haltung? Schuld daran ist absurderweise gerade die Vorzüge unserer AHV: Sie ist nicht nur sozial, sondern auch solidarisch. Diese solidarische Finanzierung der AHV war den Arbeitgebern schon immer ein Dorn im Auge. Als in den 1940er Jahren klar wurde, dass die AHV nicht mehr zu verhindern war, setzen Arbeitgeber, Finanzindustrie und Bürgerliche alles daran, die Renten möglichst tief zu halten. Denn je tiefer die AHV-Renten, desto besser läuft das Geschäft von Banken und Versicherungen mit der Altersvorsorge.
Deshalb bezeichnete Hans Sulzer, Präsident der Economiesuisse-Vorgängerorganisation Schweizerischer Handels- und Industrieverein (Vorort) die AHV 1945 als "Vorstufe zur Diktatur". Kommt dazu, dass das Umlageverfahren der AHV das Geld der Spekulation entzieht, weil die Junge direkt die Renten der Pensionierten bezahlen, statt das Kapital auf dem Finanzmarkt zu parken.
Daher stammt die Abscheu gegenüber der AHV. Eine Abscheu, die sich wider jegliche ökonomische Vernunft bis heute gehalten hat: Noch letztes Jahr lud der von SVP-Milliardären finanzierte Think-Tank "Liberales Institut" zu einer Veranstaltung gegen die "staatssozialistische AHV". Hier lautet die Devise die AHV schleifen, dort, beim anderen wirtschaftsliberalen Think-Tank Avenir Suisse, trägt man Rentenalter 67 seit Jahren wie das Allerheiligste vor sich her.
Den Angriff abschmettern
Die Marschroute ist klar: Am 24. September wollen Arbeitgeber, Finanzindustrie und ihre bürgerlichen GehilfInnen die AHV sturmreif schiessen. Um dann auf den Trümmern ihre Vorstellung einer "Altersvorsorge" umzusetzen. Mit Rentenalter 67 oder höher. Mit Rentenkürzungen und Sozialabbau. Diesen Totalangriff auf unsere Sozialwerke können und müssen wir abschmettern. Mit einem Ja zur Altersvorsorge 2020 am 24. September.