Der Bundesrat will das Ethanolpflichtlager zurück. Die Einsicht, dass dessen Abschaffung ein gravierender Fehler war, muss sich aber in der zukünftigen Ausrichtung des Service publics viel breiter bemerkbar machen.
Heute schwimmen wir darin, aber wir erinnern uns alle gut: Als sich im letzten Frühling das Coronavirus ausbreitete, sassen wir ziemlich «auf dem Trockenen» – Desinfektionsmittel war allgemein Mangelware. Zwar sprangen bald Schnapsbrennereien und Bierbrauereien ein und sattelten auf die Produktion von (minderwertigerem) Ethanol um, doch eine Lappalie war diese Knappheit nicht, wie insbesondere das Gesundheitspersonal und die PatientInnen in den Heimen und Spitälern erleben mussten.
Zwar Kaffee, aber kein Desinfektionsmittel
Um der Knappheit solcher essenzieller Güter im Krisenfall vorzubeugen, existiert in der Schweiz das System der Pflichtlagerhaltung. Auf dessen Liste sind Produkte wie Reis, Heizöl oder Schmerzmittel – ja sogar Kaffee! – aber das zur Herstellung von Desinfektionsmitteln nötige Ethanol fehlt leider seit einigen wenigen Jahren. Dies, weil im Zug der Privatisierung der ehemaligen Alcosuisse eben auch das Ethanolpflichtlager aufgehoben wurde. Eine fatale Fehlentscheidung.
«Just-in-time» reicht in der Krise nicht
Wenigstens reagierte der Bundesrat relativ schnell und eröffnete vor einigen Wochen eine Vernehmlassung zur Wiedererrichtung des Ethanolpflichtlagers, was selbstverständlich sehr zu begrüssen ist. Nur leider bleibt die Regierung mit diesem Vorschlag auf halbem Weg stehen, denn die Knappheit an Desinfektionsmitteln zu Beginn der Pandemie ist nicht einfach nur die Folge eines isolierten Fehlentscheids zur Aufhebung des Pflichtlagers, sondern vielmehr Ausdruck einer ganz grundsätzlich fehlgeleiteten Konzeption über die Grundversorgung bzw. den Service public in vielen seiner Bereiche. Denn die Pandemie hat breitflächig gezeigt, dass es fatal ist, essenzielle Wirtschafts- und Versorgungsbereiche fahrlässig dem «Just-in-time-Management» beziehungsweise der Profitlogik des Marktes zu unterwerfen.
So geschehen ist dies leider auch im grösseren Stil im Gesundheitswesen, als mit der Einführung der neuen Spitalfinanzierung vor bald zehn Jahren die Krankenhäuser allgemein auf Wettbewerb getrimmt wurden. Die Folge davon war eine sukzessive Reduktion der im Normalfall brachliegenden und daher nicht gewinnbringenden «Vorhalteleistungen»: Reservebetten wurden aufgehoben, Maskenlager beseitigt, der Personalbestand bis zum Anschlag reduziert und wichtige Investitionen aufgeschoben. Das ging lange gut – mit der gewichtigen Ausnahme, dass das Pflegepersonal schon seit Jahren unter der herbeigeführten Personalknappheit leidet –, bis dann die Pandemie kam und damit urplötzlich an allen Ecken und Enden Versorgungsengpässe auftraten: IPS-Betten fehlten, Fachpersonal gab es zu wenig, Masken waren Mangelware und die Zivilschutzspitäler entpuppten sich als marode und unbrauchbar.
Zwar gelang es der reichen Schweiz auch hier relativ schnell, Abhilfe zu schaffen und in einem allgemeinen Kraftakt Intensivbetten aufzustocken und Atemschutzgeräte zu besorgen. Doch bereits mit dem Anrollen der zweiten Viruswelle nur einige Monate später war der Bettenbestand erneut stark reduziert und das Spiel ging von vorne los. Ein Spiel, das unter dem Strich nicht nur sehr teuer war, sondern wohl leider auch Menschenleben gekostet hat.
Was kostet, muss auch funktionieren
Eine grundsätzliche Lehre aus dieser Pandemie muss daher sein: Essenzielle Versorgungsbereiche dürfen nicht der Schönwetterlogik des Marktes unterworfen werden, sondern müssen Teil der Grundversorgung beziehungsweise der öffentlichen Infrastruktur sein – beziehungsweise wieder werden. Nur das garantiert, dass wir überall dort «Pflichtlager» aufrechterhalten können, wo wir sie im Krisenfall auch brauchen.
Dass uns das teuer kommt ist erstens kein Argument und zweitens schlicht falsch. Denn der eigentliche Skandal der Pandemie liegt doch darin, dass das zu stark auf Wettbewerb getrimmte Schweizer Gesundheitswesen im internationalen Vergleich einerseits extrem teuer ist – unter den OECD-Ländern geben nur die USA mehr für Gesundheit aus – und andererseits dennoch deutlich mehr Covid-Todesfälle zu beklagen hatte als viele europäische Vergleichsländer mit viel tieferen Gesundheitsausgaben (darunter Deutschland, Österreich, die Niederlande und Skandinavien).
Und damit zurück zum Ethanol: Auch hier will der Bundesrat nur einen halbherzigen Schritt gehen. Denn die Wiedereinführung des Pflichtlagers unter dem Dach des quasi als «Public-Private-Partnership» funktionierenden Bundesamts für wirtschaftliche Landesversorgung ist kompliziert und pannenanfällig (davon zeugen etliche Beispiele der Vergangenheit). So muss ein komplexes und kostspieliges System mit Pflichtlagerquoten für Dutzende von Privatfirmen aufgebaut und überwacht werden. Wesentlich einfacher wäre es, Alcosuisse wieder zum Leben zu erwecken und mit der zentralisierten Haltung eines Ethanolpflichtlagers zu betrauen.