Eigentlich ist es bekannt: Die Schweiz kann sich nicht einer besonders fortschrittlichen Familienpolitik rühmen. Umso mehr lässt die Meldung des Bundesamts für Statistik (BfS) aufhorchen, wonach die Schweiz in Europa zu den Besten gehöre, wenn es um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie geht.
Das BfS publiziert regelmässig Statistiken zur Familienpolitik und zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die meisten stellen der Schweiz kein gutes Zeugnis aus. Gemäss der neusten Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) soll das nun anders sein. Doch bei näherem Hinsehen zeigen die SAKE-Zahlen in erster Linie, dass in der Schweiz mehrheitlich gut bezahlte Arbeitnehmende flexibel sind, wenn es um die Arbeitszeit geht: So können fast 70 Prozent der Arbeitnehmenden (mehr Männer als Frauen) in der Regel Arbeitsbeginn oder -ende aus familiären Gründen kurzfristig um eine Stunde schieben, und immerhin gut die Hälfte der Arbeitnehmenden (mehr Frauen als Männer) kann in der Regel einen Tag frei nehmen, ohne dafür Ferientage beziehen zu müssen.
Das kann, wie das BfS feststellt, tatsächlich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie vereinfachen, etwa wenn Kita-Öffnungszeiten das Pendeln an den Arbeitsplatz erschweren. Doch es genügt bei weitem nicht, um aus der Schweiz ein vereinbarkeitsfreundliches Land zu machen – schon nur, weil Menschen mit tieferen Löhnen deutlich seltener von diesen Möglichkeiten profitieren als gut Verdienende und Führungskräfte.
Dass die Schweiz in Sachen Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein Entwicklungsland geblieben ist, zeigen auch weitere Ergebnisse in der gleichen Publikation: Die Schweiz ist nämlich immer noch Spitzenreiterin bei den Frauen, die wegen der Kinderbetreuung ihre Erwerbsarbeit reduzieren oder für längere Zeit ganz aufgeben – auch wenn sich diese Werte gemäss einer weiteren SAKE-Publikation seit 2010 verbessert haben.
Das führt zu Einkommenseinbussen und finanzieller Abhängigkeit. Dazu kommt, dass diese Frauen auch häufig anspruchslosere berufliche Tätigkeiten übernehmen als vor der Geburt ihrer Kinder. Das heisst, Frauen (und einige Männer) verzichten zugunsten der Kinderbetreuung auf finanzielle Unabhängigkeit und spannende Arbeit. Die Folgerung des BfS, dass Teilzeit die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichtere, wirkt vor diesem Hintergrund zynisch. Vereinbarkeit bedeutet eben gerade nicht, dass Arbeitnehmende – mehrheitlich Frauen – zugunsten der Betreuung von Kindern und Angehörigen auf einen Teil ihres Einkommens und eine herausfordernde Arbeit verzichten müssen.
Vereinbarkeit bedeutet nicht, dass Mütter längere Pausen von der Erwerbsarbeit machen müssen. Und Vereinbarkeit bedeutet auch nicht, dass Eltern später mit der Arbeit beginnen können oder früher gehen müssen, weil die Normalarbeitszeiten überlang und die Öffnungszeiten der Kitas zu kurz sind. Dass Menschen mit Betreuungspflichten auf diese Art Flexibilität angewiesen sind, unterstreicht im Gegenteil einmal mehr, dass die Vereinbarkeit in der Schweiz nicht gegeben ist.
In vereinbarkeitsfreundlichen Ländern mit einer fortschrittlichen Familienpolitik gibt es Betreuungsangebote, die durch die öffentliche Hand finanziert sind und allen Menschen bedarfsgerecht und unentgeltlich zur Verfügung stehen. Eine fortschrittliche Familienpolitik beinhaltet auch eine Elternzeit, damit sich beide Elternteile von Anfang an um den Nachwuchs kümmern können. Erst wenn die Schweiz für Rahmenbedingungen sorgt, die Menschen mit Betreuungspflichten entlasten und sie nicht zwingen, ihre Arbeitszeiten um die Betreuung ihrer Liebsten herum zu drapieren, kann sie in Sachen Vereinbarkeit aufholen.