Obwohl das SGB-Ziel der Kinderbetreuung als Service public nur über eine Verfassungsänderung erreicht werden kann, gibt die Bundesverfassung dem Bund schon jetzt sehr viel mehr Handhabe um aktiv zu werden, als der Bundesrat anerkennen will. Dies zeigt ein kürzlich erschienenes Rechtsgutachten. Eine kohärente nationale Familienpolitik ist möglich und nötig – damit Familien und Betreuungspersonal schweizweit von den gleichen fairen Rahmenbedingungen profitieren.
Ziel des SGB ist, dass die familienergänzende Kinderbetreuung als Service public organisiert und durch die öffentliche Hand finanziert wird – genau wie die Bildung in der Volksschule. Es sollte genauso selbstverständlich sein, dass alle Kinder von einem öffentlichen Betreuungsangebot profitieren, wie, dass sie in eine öffentliche Schule gehen. Dafür braucht es jedoch eine Verfassungsänderung, was bekanntlich nicht von heute auf morgen geschieht.
Heute herrscht in der Schweiz, was die familienergänzende Kinderbetreuung angeht, Föderalismus in Reinform: Die Elternbeiträge liegenje nach Kanton irgendwo zwischen 36 und 70 Prozent der Vollkosten. Die Arbeitsbedingungen sind in jedem Kanton anders geregelt, mal über einen Gesamtarbeitsvertrag (Genf und Waadt), sehr viel öfter ohne. In einigen Städten haben die Kinder ein Anrecht auf einen Betreuungsplatz, andernorts müssen die Eltern ihr Kind schon vor der Zeugung anmelden, um Chancen auf einen Platz zu haben. Und auch eine nationale Kinderbetreuungsstatistik, die eine Übersicht über Angebot und Nachfrage geben würde, leistet sich die Schweiz nicht.
Der Bundesrat verteidigt das Fehlen einer nationalen kohärenten Politik in der Kinderbetreuung und seinen mageren finanziellen Beitrag von jährlich 50 Millionen Franken mit der Bundesverfassung, welche die Verantwortung für die Familienpolitik den Kantonen auferlegt und dem Bund nur subsidiäre Kompetenzen gibt (Art. 116 Abs. 1). So auch wieder in seinem im Februar publizierten Bericht zur Politik der frühen Kindheit: Zwar gesteht der Bundesrat Lücken in der Politik der frühen Kindheit ein, insbesondere bei der familienergänzenden Kinderbetreuung. Er zeigt sich auch bereit, eine nationale Kinderbetreuungsstatistik zu prüfen, doch viel mehr will er nicht dazu beitragen, dass die aufgelisteten Lücken geschlossen werden.
Dabei hätte der Bund sehr viel mehr Kompetenzen bezüglich Kinderbetreuung, wenn er diese nicht nur als Familienpolitik, sondern auch als Gleichstellungs- und Arbeitsmarktpolitik verstehen würde. Denn, wie ein ebenfalls im Februar erschienenes Rechtsgutachten zu den Zuständigkeiten des Bundes im Bereich der familien- und schulergänzenden Kinderbetreuung (Pascal Mahon und Batsheba Huruy, 2021) zeigt, ermöglicht die Verfassung zusätzlich mit Art. 8 Abs. 3 zur Gleichstellung sowie Art. 110 Abs. 1 zum Arbeitnehmendenschutz ein weitergehendes Engagement des Bundes.
Auch ohne Verfassungsänderung kann und soll der Bund also Rahmenbedingungen setzen für eine kohärente nationale Familienpolitik: Er muss die Finanzierung der Angebote so regeln, dass Familie López in Zürich nicht sehr viel mehr für die Betreuung ihrer Kinder zahlt als Familie Vuillemier in Lausanne. Er muss angemessene Vorgaben zu Qualität und Arbeitsbedingungen machen, so dass schweizweit ein pädagogisch begründeter Betreuungsschlüssel ohne Anrechnung von Praktikant_innen gilt und der Lohn den Anforderungen und der Verantwortung der Arbeit entspricht. Er muss die Kantone und Gemeinden angemessen finanziell bei der Bewältigung dieser wichtigen Aufgaben unterstützen. Und er soll eine nationale Kinderbetreuungsstatistik nicht nur prüfen, sondern umsetzen, und das Bundesamt für Statistik dafür mit genügend Ressourcen versehen.