Der Bundesrat hat die Zeichen der Zeit erkannt und will pflegende und betreuende Angehörige entlasten - finanziell und zeitlich. Der SGB begrüsst dieses wichtige Anliegen und ist gespannt auf die konkrete Vorlage, die bis Ende dieses Jahres zu erwarten ist.
Menschen in der Schweiz arbeiten mehr Zeit unbezahlt als gegen Bezahlung: 2013 belief sich die unbezahlte Arbeit in der Schweiz auf 8,7 Milliarden Stunden (bezahlt: 7,7 Milliarden Stunden), das BFS schätzt sie auf einen Geldwert von 401 Milliarden Franken - ein unersetzlicher Beitrag an eine funktionierende Wirtschaft. Frauen haben 62% dieses Beitrags geleistet. Hinter diesen Zahlen stehen Geschichten von Menschen, die sich bemühen, Energie und Zeit für die Betreuung von Kindern oder die Pflege von Angehörigen aufzubringen, während sie mit der Erwerbsarbeit das eigene und das Familieneinkommen sichern müssen. Stress und Überarbeitung sind die kurzfristigen Folgen, langfristig bedeutet die in unbezahlte statt bezahlte Arbeit investierte Zeit Geldknappheit und Lücken in der Altersvorsorge.
Entschädigter Urlaub bei Pflege
Der Bundesrat will diese Belastungen mit verschiedenen Massnahmen abfedern: Zurzeit können Eltern von kranken Kindern bis zu drei Tage pro Krankheitsfall frei nehmen, um diese zu pflegen. Neu sollen kurzfristige Freistellungen auch bei erwachsenen kranken Familienmitgliedern möglich sein, der Arbeitgeber soll auch hier weiter den Lohn zahlen. Für Kinder mit schweren Erkrankungen oder nach Unfällen will der Bundesrat auch einen längeren Betreuungsurlaub ermöglichen, damit Eltern - insbesondere Mütter - bei solchen Vorkommnissen nicht mehr gezwungen sind, die Erwerbsarbeit aufzugeben. Der Bundesrat verspricht unter anderem eine Variante, die den Lohnausfall analog zur Mutterschaftsversicherung kompensiert. Eine solche Lösung ist zwingend, denn gerade Krankheits- und Unfälle können das Familienportemonnaie stark belasten - Ausfälle werden da existenziell. Ebenso muss der Bundesrat solche bezahlte Betreuungsurlaube resp. vorübergehende Pensenreduktionen (wie sie in Deutschland, Österreich und Frankreich schon gängig sind) auch Menschen ermöglichen, die erwachsene Angehörige pflegen oder betreuen müssen. Gerade die Betreuung von älteren Angehörigen fällt oft in die letzte Phase der Erwerbsbiographie, nach einer Unterbrechung ist ein Wiedereinstieg kaum mehr zu bewerkstelligen.
Ausweitung der Betreuungsgutschriften
Ein Fortschritt ist die vom Bundesrat vorgeschlagene Ergänzung des AHV-Gesetzes: Die schon bisher gewährten Betreuungsgutschriften für die Betreuung von Menschen mit mittlerer Hilflosigkeit sollen ausgeweitet werden auf die Betreuung von Verwandten mit leichter Hilflosigkeit, allenfalls sogar auf Konkubinatspaare, die bisher leer ausgingen. Die Erziehungs- und Betreuungsgutschriften sind schon jetzt die wichtigste Ursache dafür, dass Frauen und Männer in der AHV annähernd gleichgestellt sind. Für die tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern bei der Rente braucht es deshalb eine Stärkung der AHV und die Anerkennung der unbezahlten Arbeit auch in der zweiten Säule.
Betreuung als Aufgabe des Service public
Gespannt ist der SGB auf die Entlastungsangebote, die der Bundesrat zur Unterstützung von pflegenden Angehörigen vorsieht. Für den SGB liegt dabei weniger der Ausbau der - unbezahlten - Freiwilligenarbeit im Fokus, sondern vielmehr die stärkere Beteiligung der öffentlichen Hand: Familienergänzende Kinderbetreuung, Betreuungsangebote für alte und kranke Menschen sowie die Gesundheitsversorgung müssen allen Menschen zur Verfügung stehen - zahlbar oder unentgeltlich, in guter Qualität und bedürfnisgerecht. Neben den sinnvollen Ansätzen des Bundesrates zur finanziellen Entlastung der pflegenden und betreuenden Angehörigen erwartet der SGB auch verstärkte Bemühungen zu deren zeitlicher Entlastung. Der Bundesrat muss die Sorge um hilfsbedürftige Menschen als gesellschaftliche anstatt als individuelle Verantwortung verstehen und Care-Dienstleistungen als integralen Teil des Service Publics stärken.