Wirtschaftskommission anerkennt das Problem der Tieflöhne

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Verfasst durch Daniel Lampart, Chefökonom des SGB

Die Mindestlohn-Initiative im Parlament

Die Wirtschaftskommission des Ständerates hat letzten Montag vom Bundesrat einen Bericht dazu verlangt, wie in der Schweiz die schwierige Situation der Beschäftigten mit einem Tieflohn verbessert werden kann. Das ist positiv für die Betroffenen. Die Kommission zeigt mit diesem Entscheid dem Bundesrat die gelbe Karte. Denn dieser hatte in der Botschaft zur Mindestlohninitiative kalt jeden Handlungsbedarf bestritten.

In der Schweiz verdienen rund 430‘000 Arbeitnehmende weniger als 4000 Franken im Monat, wenn sie Vollzeit arbeiten würden. Wer mit weniger als 4000 Franken über die Runden kommen muss, muss sich sehr stark einschränken und ist oft auf Unterstützung von Drittpersonen oder sogar auf Sozialhilfe angewiesen. Unter diesen 430‘000 Personen haben mehr als 140‘000 eine Lehre abgeschlossen. In der Schweiz gilt der Grundsatz, mit einer Lehre so viel zu verdienen, dass man damit eine Familie gründen kann. Offenbar setzen sich die Arbeitgeber im Detailhandel und anderen Branchen kalt darüber hinweg. Wie soll man junge Menschen so noch für eine Lehre begeistern?

Die Behauptung des Bundesrates in der Botschaft, in der Schweiz würde die Sozialpartnerschaft „ausgezeichnet funktionieren“, war geradezu zynisch. Viele Arbeitgeber weigern sich, mit uns Gewerkschaften Gesamtarbeitsverträge (GAV) auszuhandeln. Das betrifft auch Branchen mit tiefen und tiefsten Löhnen wie den Detailhandel mit Kleidern und Schuhen. Der Präsident des Schuhhändler-Verbandes, Dieter Spiess, bezeichnet einen Gesamtarbeitsvertrag sogar als eine „Fehlentwicklung“, obwohl in der Branche viele Verkäuferinnen deutlich weniger als 4000 Franken verdienen. Viele Branchen wie Callcenter, Kosmetikinstitute, Fitnesscenter haben gar keine Arbeitgeberverbände, mit denen GAV abgeschlossen werden könnten. Das sind oft wachsende Branchen mit tiefen Löhnen. Selbst wenn GAV abgeschlossen wurden, führen die restriktiven Quoren für die Allgemeinverbindlicherklärung in der Schweiz immer wieder dazu, dass ein nennenswerter Teil der Beschäftigten vom Schutz durch GAV ausgeschlossen ist. Jüngstes Beispiel ist der GAV Detailhandel in Genf.

Das Gesetz über die Allgemeinverbindlicherklärung von GAV stammt aus dem Jahr 1956. Das ist sehr lange her. Seitdem hat sich auf dem Schweizer Arbeitsmarkt viel verändert: Der Beschäftigungsanteil des Sekundärsektors – mit der traditionell höchsten GAV-Abdeckung – ist stark gesunken. Im Bau sind rund 60 Prozent der Beschäftigten einem GAV unterstellt, in der Industrie rund 40 Prozent, während im Dienstleistungssektor nur etwas über 30 Prozent durch einen GAV geschützt sind. Die Grossbetriebe haben viele Arbeitsplätze in andere Branchen ausgelagert (z.B. Reinigung, Gastronomie, Call Center). Die Internationalisierung der Wirtschaft hat dazu geführt, dass viele Firmen in ausländischem Besitz sind oder von ausländischen Führungskräften geführt werden, die mit der Schweizer Sozialpartnerschaft nicht vertraut sind. Die Erwerbstätigkeit der Frauen ist eine Selbstverständlichkeit geworden – viele Frauen bestreiten ihren Lebensunterhalt heute selber. Die Temporärarbeit hat sich stark verbreitet, so dass nicht mehr alle Arbeitnehmer in einem Betrieb vom selben Arbeitgeber angestellt sind. Last but not least stellt die Öffnung des Schweizer Arbeitsmarktes im Rahmen der Personenfreizügigkeit angesichts der relativ hohen Schweizer Löhne und der vergleichsweise tiefen Arbeitslosigkeit ein grosses Risiko dar.

Anders als in der bundesrätlichen Ideologie steht die Schweiz in der Realität punkto Sozialpartnerschaft nicht gut da. Nur rund die Hälfte der Beschäftigten profitiert vom Schutz durch einen GAV. Von Verhältnissen wie in Österreich (99 Prozent mit GAV), Belgien (96 Prozent), Schweden (91 Prozent) usw. können wir Gewerkschaften hierzulande vorderhand nur träumen. Diese guten GAV-Abdeckungen fallen nicht vom Himmel. Sondern sie sind die Folge einer aktiven GAV-Förderung durch die Behörden. In den Ländern mit einem besseren GAV-Schutz ist das Gesetz weniger restriktiv. Beispielsweise in Bezug auf die Quoren für die Allgemeinverbindlicherklärung. Ihre Gesetze in Bezug auf die GAV erweisen sich wesentlich moderner als die schweizerischen.

Zuständig beim SGB

Daniel Lampart

Premier secrétaire et économiste en chef

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