Paul Rechsteiner: Gemeinwohl geht vor Eigennutz

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Verfasst durch Paul Rechsteiner

Eröffnungsrede Nationalrat 2011

Ich kam 1986 in dieses Parlament. Das ist 25 Jahre her. Gestatten Sie mir einen Sprung zurück in diese Zeit. Es gab in diesem Parlament weder Laptops noch elektronische Abstimmungen. Die Ratsmitglieder sassen nach Sprachregionen getrennt. Ein Namensaufruf bei Abstimmungen dauerte zwanzig Minuten. Als wichtigste Ratskommission überhaupt galt vielen die Militärkommission.

Es war aber nicht nur hier im Parlament eine andere Welt. Europa war zweigeteilt in Ost und West und geprägt vom Kalten Krieg. Die Schweiz gehörte zu den Ländern, in denen sich die Mentalität des Kalten Krieges mit am stärksten niedergeschlagen hatte. Dies zeigte sich wenige Jahre später, bei der Aufdeckung des Fichenskandals und der Geheimarmee P26 durch parlamentarische Untersuchungskommissionen. Niemand hätte sich vorstellen können, dass in der demokratischen Schweiz Hunderttausende von Bürgerinnen und Bürgern überwacht wurden, die nichts anderes getan hatten, als von ihren demokratischen Rechten Gebrauch zu machen. Auch die Schweiz erlebte nach dem Fall der Berliner Mauer Demokratisierungsschübe.

1986, also vor erst 25 Jahren, erweiterte sich die Europäische Union mit dem Beitritt von Spanien und Portugal auf zwölf Mitglieder. Spanien und Portugal hatten wie Griechenland jahrzehntelange Militärdiktaturen überwunden. Der EU-Beitritt stabilisierte den demokratischen Weg der südeuropäischen Staaten. Eine EU-27, die Erweiterung auf die heutigen 27 Mitgliedstaaten, lag damals ausserhalb jedes Vorstellungsvermögens. Wie auch der Umstand, dass es fünfzehn Jahre später keine Deutsche Mark mehr geben würde, keinen Franc, keine Lira mehr und stattdessen den Euro.

1986 war es, als das Schweizer Volk den UNO-Beitritt mit über 75 Prozent Nein verwarf. Es dauerte 16 Jahre, bis der UNO-Beitritt 2002 an der Urne eine Mehrheit fand. Heute ist die Schweiz ein aktives und geschätztes Mitglied der Weltorganisation.

Vor 25 Jahren,1986, galt noch das alte Eherecht, das den Ehemann zum Haupt der Familie bestimmte. Die Ehefrau hatte nach dem damaligen ZGB nur sehr eingeschränkte Rechte. Das neue Eherecht mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung von Frau und Mann sollte erst 1988 in Kraft treten.  Wenn wir heute auf die letzten Jahrzehnte zurückblicken, dann zählen die Veränderungen im Verhältnis der Geschlechter zu den wichtigsten Fortschritten der Gesellschaft überhaupt.

Vor 25 Jahren, am 26. April 1986, explodierte in der damaligen Sowjetunion das Atomkraftwerk Tschernòbyl. Die Katastrophe, die wir mit den uns zur Verfügung stehenden Sinnen nicht wahrnehmen konnten, hatte auch in der Schweiz Folgen: Kein Gemüse mehr, kein Salat mehr, keine Pilze mehr. Kinder durften nicht mehr draussen spielen. Während Jahren war es nicht mehr denkbar, ein neues AKW zu bauen. Kaiseraugst wurde beerdigt. Aber weiter als bis zum vorübergehenden Moratorium kam es politisch nicht. Machen wir das Gedankenexperiment: Wo stünden wir heute, nach Fukushima, in der Energieversorgung, wenn damals, vor 25 Jahren, statt Nullentscheiden der Ausstieg aus der Atomkraft beschlossen worden wäre und entsprechende Investitionen in eine andere Energiezukunft.

Gestatten Sie mir ein paar Gedanken zu zentralen Fragen, mit denen wir heute konfrontiert sind.

Der Beinahekollaps des Finanzsystems und die Rettung der UBS durch den Staat vor drei Jahren haben schlagartig aufgezeigt, welche Grossrisiken von einem Finanzsektor ausgehen, der ausser Kontrolle geraten ist. Kaum ein Land ist diesen Risiken stärker ausgesetzt als die Schweiz; man muss nur die Bilanzsummen unserer Grossbanken mit der Wirtschaftsleistung unseres Landes vergleichen. Es geht dabei nicht nur um volkswirtschaftliche, sondern auch um demokratiepolitische Grossrisiken. Vor drei Jahren wurde die grösste Staatsintervention aller Zeiten am Parlament und  an der Demokratie vorbei mit Notrecht beschlossen – wie im Krieg. Hingegen durften die Aktionäre der UBS anschliessend an der Generalversammlung aktionärsdemokratisch entscheiden, ob sie die Staatshilfe annehmen wollten oder nicht. Also: Wer bekommt, der hat volles Mitspracherecht, wer in die Pflicht genommen wird, hat dazu nichts zu sagen. Krasser kam das Missverhältnis zwischen den Interessen der Finanzkonzerne und der Demokratie nie zum Ausdruck. Solche Vorgänge dürfen sich nicht wiederholen, wenn unsere Demokratie nicht nachhaltig Schaden nehmen soll.

Die Vorgänge an den globalisierten Finanzmärkten sind eine Folge der Deregulierungsschübe, die in den USA während der Reagan-Aera angestossen wurden. Auch dies war in den achtziger Jahren. Auf diese Fehlentwicklung der Finanzmärkte braucht es globale Antworten, genauso wie bei der globalen Herausforderung der Klimaerwärmung.

Auch bei uns wurde die Shareholder-Value-Doktrin propagiert, mit Eigenkapitalrenditen von 15 bis 20 Prozent. Das ist in der realen Wirtschaft ausserhalb jeder Reichweite, und, wie sich jetzt gezeigt hat, auch im Finanzsektor. Es braucht auch in der Schweiz eine Rückbesinnung darauf, dass die Finanzmärkte nicht allen anderen die Regeln diktieren dürfen. Der Finanzsektor ist kein Selbstzweck, dem sich alle anderen unterordnen müssen. Deshalb muss er wieder zu seiner volkswirtschaftlich nützlichen Funktion zurückkehren. Dafür braucht es neue Regeln. Der Finanzsektor muss den Menschen, der Wirtschaft dienen, und nicht umgekehrt.

Weltweit, und erst recht in der Schweiz, gibt es einen enormen Überfluss an Kapital. Aber was hat die grosse Mehrheit der Menschen davon? Auf der einen Seite besteht heute eine eigentliche Anlagenot, mit Niedrig- oder gar Nullzinsen. Auf der anderen Seite werden die der Allgemeinheit zur Verfügung stehenden Mittel gekürzt und die Einkommensentwicklung der Mehrheit stagniert. Es fehlt an einer Politik, welche dafür sorgt, dass das im Überfluss vorhandene Geld wieder den Menschen und der Gesellschaft als Ganzes mit ihren Bedürfnissen zugute kommt. Die Finanzmärkte können das nicht leisten. Das ist eine politische Aufgabe.

Am Ausgang des zweiten Weltkriegs entwickelte sich in der westlichen Welt, auch in der Schweiz, ein politischer Konsens, wonach die wirtschaftliche Entwicklung Hand in Hand mit sozialen Fortschritten gehen muss. Stichworte dafür sind die Atlantik-Charta und der Geist von Philadelphia. Dieser Nachkriegskonsens eröffnete nach den wirtschaftlichen und politischen Verheerungen der Jahrzehnte davor eine völlig neue Etappe der Geschichte: Investitionen in die Zukunft. Die Verbindung der wirtschaftlichen Ziele mit dem Prinzip sozialer Gerechtigkeit. Der Aufbau des Sozialstaats. Die Gewährleistung der Menschenrechte. Prinzipien also, die unter veränderten Bedingungen so aktuell sind wie damals.

Zu den wichtigsten Fragen, die uns in den kommenden Jahren beschäftigen werden, gehört unser Verhältnis zu Europa. Ob es uns passt oder nicht: Wir werden gezwungen sein, mit Widersprüchen zu leben. Niemand kann bestreiten, dass wir seit dem Ende des zweiten Weltkriegs in Europa eine historisch einmalige Friedensperiode erlebt haben. Auf einem Kontinent, der zuvor in fast jeder Generation von Kriegen und aggressivem Nationalismus geprägt war. Der Triumph der Demokratie in Europa und die Überwindung der alteuropäischen Nationalismen ist die historische Leistung der europäischen Integration. Sie kam auch der Schweiz, unserer Freiheit, unserer Sicherheit und unserem Wohlstand enorm zugute. Das Schicksal der Schweiz im Herzen Europas wird eng mit dem Fortgang des EU-Projekts verknüpft bleiben.

Gleichzeitig steckt die EU in ihrer bisher grössten Krise. Ursache dafür sind auch hier die Entwicklungen in dem ausser Kontrolle geratenen Finanzsektor. Den Bevölkerungen vieler Länder Europas wird derzeit durch das Diktat der Finanzmärkte eine Austeritätspolitik mit Sozialabbauprogrammen aufgezwungen, die nichts mit den sozialen Realitäten dieser Länder zu tun haben. Als wären die Finanzmärkte der neue Souverän, ein Souverän, der sich absolut setzt, ohne jede demokratische Kontrolle. Das ist ein Rückfall in Prinzipien, wie sie im Zeitalter des Absolutismus galten. In der Schweiz konnten die Stimmberechtigten sich zu geplanten Rentensenkungen äussern, dank unseren direktdemokratischen Rechten. Sie haben die Rentensenkungen abgelehnt. In den betroffenen EU-Staaten, von England über Spanien bis zu Griechenland, gibt es solche direktdemokratischen Mittel nicht.

Wir werden im Verhältnis zur EU mit Widersprüchen und Spannungen leben müssen. Wie auch immer die politischen Weichenstellungen der nächsten Jahre ausfallen werden: Immer mehr Fragen lassen sich nicht mehr allein nationalstaatlich lösen. Wir werden unser Verhältnis zur EU wieder neu definieren müssen. Auf der anderen Seite sind unsere direktdemokratischen Rechte Errungenschaften, die in Zeiten grosser Umbrüche nicht weniger wichtig, sondern wichtiger geworden sind. Sie sorgen dafür, dass nicht über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden wird. Die Kunst des Politischen wird es sein, ausgehend von diesen Widersprüchen Lösungen zu finden, welche die schweizerischen Errungenschaften erhalten und gleichzeitig die europäische Zusammenarbeit fördern.

Ein dritter Gedanke zum Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft. Ich gehöre wie die Mehrheit hier zur Nachkriegsgeneration, die in vielerlei Hinsicht ungleich bessere Bedingungen als frühere Generationen antraf. In bescheidene Verhältnisse hineingeboren erlebten wir einen nie dagewesenen wirtschaftlichen Aufschwung: das Bad in der Wohnung, die Waschmaschine, den Fernseher für alle, das Auto für fast alle und die Erfindung der Ferien als Massenphänomen. Das bis dahin zumeist in berechenbaren Bahnen ablaufende Leben bot auf einmal ungeahnte individuelle Entfaltungsmöglichkeiten. Erstmals gab es mehr Studierende als Bauern. Bildungschancen für alle öffneten sich.

Seit zehn, zwanzig Jahren aber hat eine gegenläufige Entwicklung eingesetzt, die beunruhigend ist. Statt dass der gemeinsam erarbeitete Wohlstand allen zugute käme, hat sich die Kluft der Einkommens- und Vermögensverteilung dramatisch vertieft. Die Bildungschancen hängen inzwischen wieder viel stärker von der sozialen Stellung der Eltern ab. Das ist schlecht für die gesellschaftliche Entwicklung, und schlecht für eine lebendige Demokratie.

Wenn wir in den kommenden Jahren vor wichtigen Entscheiden stehen, dann müssen wir uns bewusst sein, dass wir damit die Weichen für Jahrzehnte stellen. So wie wir von den Entscheiden unserer Vorgänger vor Jahrzehnten profitiert haben, so stark sind die Generationen, die uns folgen werden, darauf angewiesen, dass wir, bei allen Kontroversen, vorausschauend entscheiden. Nicht nur kurzfristig, sondern mit längerfristigem Horizont.

Stellen wir uns vor: Wir wären das neugewählte Parlament im Jahre 2035, und schauten auf das vergangene Vierteljahrhundert zurück, auf das heutige Parlament des Jahres 2011. Wir kämen wohl zu ähnlichen Schlüssen, wie wenn wir heute auf das Jahr 1986 zurückblicken. Aus der damaligen Perspektive war vieles von dem, was in den nächsten Jahren und Jahrzehnten passieren sollte, schlicht unvorhersehbar. Dennoch war es für unsere heutige Schweiz entscheidend, was damals beschlossen wurde. Denken wir beispielsweise an die grossen Bahninvestitionen, Bahn 2000 und später die Neat, mit welchen das öffentliche Verkehrssystem der Schweiz auf eine neue Grundlage gestellt wurde. Nur der Staat ist in der Lage, solche Grossinvestitionen im öffentlichen Interesse zu schultern.

Die Zukunft bleibt unvorhersehbar. Dennoch ist es entscheidend, welche Weichenstellungen wir in den kommenden Jahren treffen – oder verpassen. Mit Blick auf unsere Nachfahren stehen wir  vor der Frage, welche Perspektiven wir für die Zukunft eröffnen. Ob wir dem alten und gleichzeitig hochmodernen Leitsatz gerecht werden: «Gemeinwohl geht vor Eigennutz».

An diesem Massstab sollten wir uns messen lassen. Öffnen wir die Augen, weiten wir den Blick! In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, wünsche ich uns eine spannende, eine erfolgreiche Legislatur.

Zuständig beim SGB

Daniel Lampart

Premier secrétaire et économiste en chef

031 377 01 16

daniel.lampart(at)sgb.ch
Daniel Lampart
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