In zahlreichen Kantonen braucht es zur Besetzung des Ständerates noch zweite Wahlgänge. Doch bereits heute ist klar, dass sich die Unterschiede in der parteipolitischen Zusammensetzung von National- und Ständerat akzentuiert haben. Dass im Nationalrat in den sozial- und arbeitnehmerpolitischen Fragen die Arbeitgeberpositionen gestärkt wurden, dürfte aber nicht Ausdruck des „Volkswilllens“ sein. Denn viele WählerInnen haben der SVP vor allem aus Verunsicherungen in Bezug auf gesellschaftliche Entwicklungen ihre Stimme gegeben. Der „Rechtsrutsch“ dürfte daher in gesellschaftlichen Fragen eine Realität sein, nicht aber in sozialpolitischen und wirtschaftlichen.
Ein erster Blick in die regionalen Wahlergebnisse aus gewerkschaftlicher Sicht liefert Anhaltspunkte, dass die tiefen und mittleren Einkommensschichten wieder vermehrt die sozialen Kräfte (SP, Grüne u.a.) im Parteienspektrum gewählt haben. Im Kanton Zürich beispielsweise haben diese insgesamt in (fast) allen Städten und Agglomerationsgemeinden zugelegt. In vielen so genannten „Arbeiterquartieren“ der Städte, aber auch in den grossen Agglomerationsgemeinden mit durchschnittlichem oder unterdurchschnittlichem Einkommensniveau hat die SVP mit ihrer fremdenfeindlichen Kampagne an Wähleranteil verloren (Dietikon, Schlieren, ganze Stadt Zürich – insbesondere Kreise 11 und 12, aber auch Pfäffikon u.a.) oder zumindest weniger stark zugelegt als die sozialen Kräfte (Wetzikon, Uster, Winterthur Mattenbach u.a.). Ausnahmen sind einzig Kloten, Dübendorf, Regensdorf, Winterthur Seen und Töss.
Aus gewerkschaftlicher Sicht stehen in der kommenden Legislatur vor allem zwei Geschäfte von grosser Tragweite an, nämlich die Weiterführung der Bilateralen Verträge – verbunden mit einer Lösung der Probleme beim Schutz der Löhne und Arbeitsplätze –, und die Altersvorsorge.
Bei der Altersvorsorge hat der Ständerat mit der Stärkung der AHV bzw. der Erhöhung der AHV-Renten um 70 Franken einen wichtigen, überfälligen Schritt gemacht. In der Bevölkerung wurde dieser Entscheid positiv aufgenommen – weil die AHV-Renten gegenüber den Löhnen in Rückstand und die Pensionskassenrenten unter Druck geraten sind. Deshalb hat der SGB auch die Volksinitiative AHVplus lanciert, die eine Erhöhung der AHV-Renten um 10 Prozent vorsieht. Der neu gewählte Nationalrat muss sich dieser Ausgangslage bewusst sein und seine Verantwortung wahrnehmen. Sonst muss die Bevölkerung den Entscheid korrigieren.
Bei der Frage der Bilateralen Verträge geht es um die Sicherheit der Löhne und Arbeitsplätze. Die Schweiz als Exportland ist auf die Bilateralen angewiesen. Gleichzeitig müssen die Missbräuche des Freizügigkeitsabkommens durch die Arbeitgeber beseitigt werden. Zentral ist ein besserer Schutz der Löhne und der älteren Arbeitnehmenden. Zusätzlich braucht es Massnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Geradezu absurd sind Forderungen aus Arbeitgeberkreisen, dass die neu gewählten Räte beim Thema Arbeit tätig werden sollen. Beispielsweise durch einen Abbau des Arbeitnehmerschutzes. Als ob Löhne und Arbeitsplätze durch die Frankenüberbewertung nicht bereits genug unter Druck geratenen wären. Solche Phantasien sind in der Bevölkerung nicht mehrheitsfähig.
Die neue Legislatur wird ausgesprochen anspruchsvoll. Einerseits wegen den anstehenden Geschäften, andererseits weil der Nationalrat in arbeitnehmer- und sozialpolitischen Fragen nicht repräsentativ zusammengesetzt ist. Dem Ständerat, aber auch dem Bundesrat kommt in dieser Situation eine besondere Bedeutung zu. Die Gewerkschaften stehen bereit, gegen falsche Entscheide den Volkswillen durchzusetzen.