Ein Sozialpakt für Europa

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Verfasst durch Europäischer Gewerkschaftsbund

Wir, die führenden Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen Europas, die im Europäischen Gewerkschaftsbund vereint sind, möchten mit diesem Appell einen Sozialpakt für Europa vorschlagen.

Wir stellen eine wachsende Ungleichheit, eine Zunahme der Armut und der Ausgrenzung, rasant steigende Arbeitslosenzahlen, mangelnde Arbeitsplatzsicherheit, von der in erster Linie junge Menschen betroffen sind, sowie eine gewisse Ernüchterung und zunehmende Enttäuschung hinsichtlich des Europäischen Einigungswerks fest.

Wir beobachten ein beunruhigendes Erstarken von Nationalismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Verschärft durch die zunehmende Niedriglohnkonkurrenz könnte dieser Trend zu einer Ablehnung des europäischen Projekts – das vom EGB stets nachhaltig unterstützt wurde – führen.

Wir stellen fest, dass die wirtschaftlichen und sozialen Nachkriegsordnungen, die zur Gründung der Europäischen Union und zur Schaffung des europäischen Sozialmodells geführt haben, in ihren Grundpfeilern bedroht sind. Dieses einzigartige Sozialmodell hat den Bürgerinnen und Bürgern und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern beträchtliche Vorteile gebracht und es uns erlaubt, den Wiederaufbau zu leisten und zu Wohlstand zu gelangen.

Wir unterstreichen, dass die sozialen Grundrechte Vorrang vor wirtschaftlichen Freiheiten haben müssen. So legt es die im Vertrag von Lissabon enthaltene Grundrechtscharta fest. Dies sollte in einem Protokoll über den sozialen Fortschritt betont und die Verträge in diesem Sinne ergänzt werden.

Wir glauben, dass die Währungsunion dem europäischen Integrationsprozess dienen muss, der auf den Prinzipien Frieden, Demokratie und Solidarität und auf dem wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts beruht. Dies ist der richtige Weg, um den Bürgerinnen und Bürgern in einer globalisierten Welt eine Zukunft zu sichern.

Wir erinnern daran, dass der erklärte Zweck der EU der wirtschaftliche und soziale Fortschritt ist. Um die EU 2020 Zielsetzungen zu erreichen, brauchen wir sozial stabile Gesellschaften, ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum und Finanzeinrichtungen, die der Realwirtschaft dienen.

Wir glauben, dass gerade im sozialen Dialog gerechte und effiziente Lösungen gefunden werden können; als Antwort auf die ernste Krise, die die Europäische Union derzeit durchlebt. Bedauerlicherweise stellen wir jedoch fest, dass Mitbestimmung und der Soziale Dialog diskreditiert, attackiert und untergraben werden.

Wir appellieren an die EU, sich auf eine Politik zu besinnen, durch die die Lebens- und Arbeitsbedingungen verbessert werden und eine qualitativ hochwertige Beschäftigung, gerechte Löhne, Gleichstellung, ein effektiver Sozialdialog, Gewerkschafts- und andere Menschenrechte, ein hochwertiger öffentlicher Dienst, soziale Schutzstandards – zu denen auch gerechte und nachhaltige Vorschriften im Bereich Gesundheit und Pensionen gehören – sowie eine Industriepolitik, die einen gerechten Übergang zu einem nachhaltigen Entwicklungsmodell begünstigt, gewährleistet sind. Eine derartige Politik würde dazu beitragen, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in ihre gemeinsame Zukunft aufzubauen.

Wir lehnen jede Politik ab, die zu einem Dumping-Wettlauf nach unten führt – sei es beim Arbeitsrecht, den Löhnen, der Arbeitszeit, der sozialen Sicherheit, den Steuern oder bei der Umwelt.

Wir unterstützen eine koordinierte Wirtschaftspolitik sowie das Ziel gesunder Staatsfinanzen, beklagen aber die jüngst eingeführten Maßnahmen der wirtschaftlichen Steuerung, welche die sozialen Errungenschaften der letzten zehn Jahre aushöhlt, eine nachhaltige Entwicklung sowie den Wirtschaftsaufschwung im Keim erstickt und die öffentliche Daseinsvorsorge zerstört. Daher sprechen wir uns gegen den Vertrag zu Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (Fiskalvertrag) aus.

Wir sind auch besorgt darüber, wie der Fiskalvertrag zustande kam, waren doch das Europäische Parlament und die Bürger dabei nicht eingebunden.

Wir bestehen darauf, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten unter anderem folgende europäische und internationale Abkommen und Instrumente strikt einhalten: ILO-Übereinkommen, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die Revidierte Europäische Sozialcharta (RESC)! Die EU sollte dieser, sowie dem Zusatzprotokoll über Kollektivbeschwerden (1995) beitreten.

Aus all den genannten Gründen fordern wir einen Sozialpakt für Europa, über dessen Inhalt wir auf tripartiter Ebene diskutieren wollen, um zu einer Einigung zu gelangen.

Der Europäische Gewerkschaftsbund ist der Auffassung, dass die nachstehenden Punkte in diesen Sozialpakt aufgenommen werden müssen:

Tarifverhandlungen und Sozialdialog:

Tarifautonomie und der soziale Dialog sind fester Bestandteil des europäischen Sozialmodells. Beide müssen auf EU- sowie auf nationaler Ebene garantiert werden. Jeder Mitgliedstaat muss entsprechende unterstützende Maßnahmen einführen.

Die Autonomie der Sozialpartner, sowie ihre Rolle und Stellung, muss auf nationaler und auf europäischer Ebene gewährleistet sein. Es darf kein Eingreifen in Tarifverhandlungen oder bestehende Tarifverträge von Seiten der öffentlichen Behörden geben. Die Tarifbindung muss erhöht werden.

Die effektive Einbindung der Sozialpartner in die europäische wirtschaftliche Steuerung und die nationalen Reformpläne ist, bereits von Beginn an, also schon in der Diagnosephase, wesentlich. Bemühungen zur Anpassung an die sich wandelnden Umstände sollten in Einklang mit den zur Verfügung stehenden Mitteln der Menschen stehen und nicht von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ihren Familien allein geschultert werden.

Wirtschaftspolitik für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung:

Dringende Maßnahmen, um die Krise der Staatsverschuldungen zu beenden und der EZB die Rolle zu übertragen, auch als Kreditgeber in letzter Instanz für die Euroländer zu fungieren. Dazu gehört auch die Emission von der Gemeinschaftsanleihe Eurobonds. Die für jedes Land vorgeschlagenen Wachstumsprogramme müssen mit den Sozialpartnern diskutiert, vereinbart und überwacht werden.

Eine europäische Industrie- und Investitionspolitik, die darauf abzielt wirtschaftliche und ökologische Herausforderungen zu meistern; Investitionen in nachhaltige Infrastruktur, Forschung und Entwicklung, Klimatechnik und erneuerbare Ressourcen sollen hierbei Vorrang haben. Sie dürfen nicht in die Budgetdefizite eingerechnet werden.

Regeln zur Sicherstellung eines regulierten, soliden und transparenten Finanzsektors im Dienste der Realwirtschaft.

Zusätzliche Mittel, die aus einer verbesserten Nutzung des europäischen Strukturfonds, der Europäischen Investitionsbank, aus Projektanleihen und einer angemessen entwickelten Finanztransaktionssteuer gewonnen werden können, sollten für soziale und ökologische Zwecke verwendet werden.

Dem Druck der EU zur Liberalisierung des öffentlichen Dienstes, der in nationaler Zuständigkeit liegt, ist Einhalt zu gebieten.

Menschenwürdige Löhne für alle, die zur Stärkung von Wachstum und Binnennachfrage beitragen.

Eine Garantie für alle jungen Menschen in Europa, dass sie spätestens nach vier Monaten Arbeitslosigkeit oder nach Beendigung der Schulzeit eine menschenwürdige Arbeit oder angemessene Ausbildungsmöglichkeiten erhalten.

Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität von Arbeitsplätzen und zur Bekämpfung von prekären Arbeitsverhältnissen; Kampf gegen missbräuchliche Praktiken in Teilzeit, Leiharbeit und bei befristeten Verträgen.

Eine aktive Arbeitsmarktpolitik mit Initiativen insbesondere zur Unterstützung von Menschen, die nur beschränkten oder gar keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben.

Wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit:

Eine gerechte Besteuerung von Einkommen und Vermögen und ein Ende für Steuerparadiese, Steuerflucht, Steuerhinterziehung, Korruption und Schwarzarbeit.

Entschlossene Maßnahmen gegen Spekulation.

Effektive für alle geltende Maßnahmen zur Sicherung von gleichem Lohn und gleichen Rechten für gleichwertige Arbeit am gleichen Ort; Tarifverträge und gleiches Arbeitsentgelt müssen für alle gelten, unabhängig von der Art des Vertrags.

Umsetzung einer Politik zur Beendigung der Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern.

Die Lohnbildung muss nationale Angelegenheit bleiben und nach nationalen Gepflogenheiten und nach dem System der Arbeitsbeziehungen gehandhabt werden. Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern auf der entsprechenden Ebene sind das beste Mittel, um gute Löhne und Arbeitsbedingungen zu gewährleisten; der gesetzliche Mindestlohn in den Ländern, wo ihn die Gewerkschaften als nötig erachten, muss angehoben werden; jedenfalls müssen diese Lohnuntergrenzen die Regeln des Europarates für ein gerechtes Arbeitsentgelt respektieren.

Harmonisierung der Steuerbemessungsgrundlage für Unternehmen und Mindeststeuersätze für Unternehmen, gegebenenfalls mit Einführung eines Mindestsatzes von 25%, dem aktuellen durchschnittlichen Steuersatz in Europa.

Wir appellieren nachdrücklich an die europäischen Arbeitgeberorganisationen, die EU-Institutionen, die nationalen Regierungen, und unterstützende Organisationen sich an der Debatte über den EGB Vorschlag für einen Sozialpakt für Europa, zu beteiligen.

Zuständig beim SGB

Luca Cirigliano

Zentralsekretär

031 377 01 17

luca.cirigliano(at)sgb.ch
Luca Cirigliano
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