Am 25. November Nein zum Observationsartikel!

  • Gewerkschaftspolitik
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Verfasst durch Reto Wyss

Sozialversicherungen haben andere Probleme

Missbrauch von Sozialleistungen muss bekämpft werden. Bei der vorgeschlagenen Revision des Sozialversicherungsrechts geht es aber um etwas ganz anderes: Mit der Schaffung völlig unverhältnismässiger Befugnisse für private Observationen würde die gesamte Bevölkerung unter Generalverdacht gestellt. Es braucht deshalb am 25. November ein klares Nein zur Einschränkung unserer Grundrechte.

Sozialversicherungen: Missbrauch selten, Bekämpfung funktioniert

Die Sozialversicherungen stellen soziale Errungenschaften dar, weil sie uns vor sozialen Risiken wie Unfall, Krankheit und Arbeitslosigkeit schützen. Es handelt sich dabei um Risiken, die jede und jeden treffen können. Die Sozialversicherungen sind für uns alle da und werden von uns allen mitfinanziert. Mit unseren Beiträgen erwerben wir deshalb ein Recht auf Leistungen im Risikofall.

Gerade Arbeitnehmende sind darauf angewiesen, dass Sozialversicherungen ihren Zweck erfüllen können und nicht missbraucht werden. Betrugsbekämpfung ist folglich bei allen Sozialversicherungen eine Notwendigkeit. Das Sozialversicherungsrecht enthält deshalb ein gut funktionierendes Instrumentarium zur Bekämpfung und Bestrafung von missbräuchlichem Leistungsbezug. Das System funktioniert gut: Missbräuche geschehen selten, nehmen nicht zu und können mit den bestehenden Mitteln aufgedeckt und geahndet werden. Es braucht keine neuen Instrumente.

 

Keine harmlose "Gesetzesgrundlage"

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte monierte im Herbst 2016 richtigerweise, dass in der Schweiz eine gesetzliche Grundlage für den Einsatz von Sozialdetektiven fehlt. Das Parlament hat sich danach in Windeseile daran gemacht, diese Grundlage zu schaffen – und dabei weit mehr aufs Tempo als auf Grundrechte geachtet. Man hat sich keineswegs darauf beschränkt, die notwendigen gesetzlichen Bestimmungen zu schaffen, sondern hat die Vorlage vielmehr dazu benutzt, den Überwachungsstaat auszubauen und die Grundrechte abzubauen. Der vorgeschlagene Observationsartikel stellt sämtliche Bezügerinnen und Bezüger von Sozialleistungen unter Generalverdacht und stattet private Versicherungskonzerne mit Kompetenzen aus, die weit über jene der Strafverfolgungsbehörden hinausgehen. Deshalb unterstützte der SGB das Referendum gegen Versicherungsspione und deshalb braucht es am 25. November ein klares Nein.

 

Alle Macht den Versicherungen?

Im Gegensatz zur früheren Praxis gilt der neue Observationsartikel für fast alle Sozialversicherungen. Neben den Unfallversicherungen (wie die SUVA) und der IV sind auch die Krankenkassen und die Arbeitslosenversicherung davon betroffen. Über die Ergänzungsleistungen und die Hilflosenentschädigung ist nicht einmal die AHV davon ausgenommen. Dieser Geltungsbereich stellt fast die gesamte Schweizer Bevölkerung unter Generalverdacht und macht es möglich, dass unsere Privatsphäre jederzeit verletzt werden kann – und das rechtens.

Stossend am Überwachungsgesetz ist zudem, dass ein potenzieller Betrug nicht von der neutralen Polizei, sondern von den (teilweise privaten) Versicherungen selbst verfolgt würde. Diese haben naturgemäss ein grosses Interesse daran, wenn möglich Leistungen einstellen zu können. Alleine die Versicherung gibt die Anweisung, ob und wann wir von Detektiven überwacht werden, bzw. ob hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen. Einmal erstellte Observationsberichte dürfen die Versicherungen zudem frei untereinander austauschen. Das ist datenschutzrechtlich äusserst bedenklich.

 

Mehr Kompetenzen als in der Terrorismusbekämpfung

Die vorgeschlagene Gesetzesänderung ermöglicht die Überwachung von Versicherten durch Privatdetektive sowie (mindestens) den Einsatz von Kameras, Tonaufnahmegeräten und GPS-Ortungsgeräten. Erlaubt werden dabei schwerwiegende Eingriffe in die Grundrechte. Das Parlament hat – unter starken Druck der Versicherungslobby – explizit darauf verzichtet, dass die Observationsmassnahmen generell richterlich angeordnet werden müssen. Private Versicherungsspione sollen somit mehr Befugnisse haben als die staatlichen Strafverfolgungsbehörden.

Mit dem Observationsartikel dürften Versicherte zudem nicht nur an "allgemein zugänglichen Orten" überwacht werden. Detektiven wäre es sogar erlaubt, von einem Ort aus zu observieren, der von einem allgemein zugänglichen Ort frei einsehbar ist (z.B. ein Garten oder eine Fensterfront). Das dürfen Strafverfolgungsbehörden heute ebenfalls nicht – auch nicht mit richterlicher Anordnung.

 

Die dicken Fische schwimmen weiter

Missbrauchsbekämpfung – im herkömmlichen rechtsstaatlichen Rahmen – ist in den Sozialversicherungen deshalb wichtig, weil damit Ausgaben gesichert werden können, die den anspruchsberechtigten LeistungsbezügerInnen zustehen. Dasselbe gilt aber auch für die Einnahmen: Ein unrechtmässig bezogener Franken schadet dem Sozialstaat ebenso sehr wie ein unrechtmässig nicht einbezahlter Franken. Und das führt direkt zur Steuerhinterziehung:

In der gleichen Session, in der es den Observationsartikel verabschiedet hat, hat das Parlament auch auf eine Verschärfung des Steuerstrafrechts verzichtet. Konkret wurde damit verhindert, dass das Bankgeheimnis endlich auch im Inland aufgehoben wird. Steuerhinterziehung bleibt damit im Gegensatz zu Steuerbetrug weiterhin explizit straffrei, wodurch dem Staat Mittel in zweistelliger Milliardenhöhe entgehen[1]. Diese permanenten Einnahmeausfälle betragen ein Vielfaches dessen, was durch Missbrauchsbekämpfung in den Sozialversicherungen je generiert werden kann (geschweige denn der zusätzlichen Mittel, die der Observationsartikel allenfalls bringen würde[2]). Oder in anderen Worten: Dort wo der Missbrauch viel mehr ins Geld geht, wird bewusst weniger getan. Das Geld soll nicht gestört werden, dafür aber die Privatsphäre fast sämtlicher Versicherter in der Schweiz.


[1] "Tax Evasion in Switzerland: The Roles of Deterrence and Tax Morale", Lars P. Feld / Bruno S. Frey (2006).

[2] Grosszügige Schätzungen des BSV gehen für die IV von einem Potenzial von 178 Mio. aus. Das gesamte Sparpotenzial dürfte daher weit unter einer Milliarde liegen.

Zuständig beim SGB

Daniel Lampart

Sekretariatsleiter und Chefökonom

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daniel.lampart(at)sgb.ch
Daniel Lampart
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