Bis in die jüngste Vergangenheit war die Berufsbildung das Stiefkind in der Schweizer Bildungsforschung. Das spiegelte ihr tiefes gesellschaftliches Ansehen bei der – akademisch ausgebildeten – Elite. In den letzten Jahren begann sich das national und international leicht zu ändern.
Die OECD entdeckt die duale Berufsbildung
Das Interesse der OECD an den dualen Berufsbildungssystemen ist stark gestiegen. Dieses Frühjahr veröffentlichte die OECD gleich drei entsprechende Berichte zur Schweiz.
Die OECD gibt dem schweizerischen Berufsbildungssystem gute Noten. Sie weist aber auch deutlich auf die Grenzen des dualen Berufsbildungssystems hin. Insbesondere unterstreicht ihr Länderbericht die negativen Auswirkungen der laufenden Wirtschaftskrise auf den Lehrstellenmarkt. Die OECD empfiehlt der Schweiz vor allem, mittels staatlicher Angebote im Falle des Marktversagens eine Bildungsrationierung zu vermeiden. Ausbildende Betriebe sollen, zeitlich limitiert, während der Krise finanzielle Anreize erhalten, insbesondere die öffentliche Verwaltung soll ihr Ausbildungsengagement erhöhen, und die Schweiz soll mehr staatlich finanzierte Vollzeitangebote in der Berufsbildung (öffentliche Lehrwerkstätten), zumindest bis zum nächsten Aufschwung, zur Verfügung stellen. Diese Empfehlungen werden durch eine erst kürzlich erschienene Vergleichsstudie des Berufsbildungssystems in den Niederlanden und in der Schweiz bestätigt. Diese Studien unterstreichen die jahrelange Kritik des SGB, und sie stützen dessen Vorschläge.
Rudolf Strahm: sehr anregend, aber idealisierend
Im sehr anregenden „Warum wir so reich sind“ begründet Rudolf Strahm den (ungleich verteilten) Reichtum in der Schweiz vor allem mit der dualen Berufsbildung. Er relativiert diese allzu monokausale Begründung allerdings gleich selbst, wenn auch nicht explizit. Zudem haben die neunziger Jahre gezeigt: Auch die schweizerische duale Berufsbildung schlitterte in eine doppelt so hohe Jugendarbeitslosigkeitsrate (Relation arbeitslose Jugendliche zu Arbeitslosen insgesamt), wie in den anderen Ländern. Dabei gilt es zusätzlich zu berücksichtigen, dass mittlerweile ein Fünftel der Schulabgänger/innen in die mehrheitlich über Steuergelder oder über die Arbeitslosenversicherung finanzierten Warteschlaufen der Brückenangebote geschickt und mehrere Tausend Jugendliche jährlich von keiner Statistik erfasst werden. Strahms Buch ist nützlich, engagiert und kritisch. Es wird insbesondere dann der Entwicklung der Schweizer Berufsbildung helfen, wenn diese nicht unnötig idealisiert wird.
Die Verschärfung der Ungleichheit
- Im Sozialbericht 2008 weist Thomas Meyer in seinem Beitrag „Wer hat, dem wird gegeben: Bildungsungleichheit in der Schweiz“ eindrücklich nach, wie die Selektion des schweizerischen Bildungssystem den Bildungsgang bestimmt. Das „Migrantenproblem“ ist ein Problem der sozialen Schichtung, und „der ausgeprägte und dauerhafte Mangel an Ausbildungsplätzen auf der Sekundarstufe II wirkt ungleichheitsverschärfend“.
- Im „Caritas-Sozialalmanach 2009“ warnt Ernest Albert („Passt der Nachwuchs?“) vor den Nachteilen, die eine sture Orientierung an der Norm „Nachwuchs und Bildungssystem haben auf den Bedarf der Arbeitgeber zu passen“ mit sich bringt.
- Der breit angelegte Diskussionsband „75 Jahre eidg. Berufsbildungsgesetz“ (hrsg. von Bauder/Osterwalder) zeigt auf, wie das schweizerische Berufsbildungssystem sich historisch entwickelt hat, wo seine Stärken und Schwächen liegen. Auch der Beitrag von Martina Späni in „Bildungsraum Schweiz“ kommt zu ähnlichen Einschätzungen.
- Iten/Schulthess stellen fest, dass den jugendlichen Arbeitslosen heute im Vergleich mit den 30er Jahren weniger Solidarität und Wertschätzung entgegengebracht werde.
In den kommenden Monaten und Jahren wird das duale Berufsbildungssystem nach einer nur kurzen und schwachen Erholung im Angebot von Lehrstellen erneut auf die Krisenprobe gestellt. Was zu tun ist, wissen wir heute besser. Ob es getan wird, hängt am politischen Willen der entscheidenden Akteure. Und dazu zählen die Jungen selbst. Es sollte niemanden überraschen, wenn nach dieser bereits sehr langen Durststrecke bei einem erneuten Rückgang der Lehrstellenangebote zumindest ein Teil der Jugend sich ihrer Mobilisierungsfähigkeit erinnern wird.
Eine ausführliche Version dieser Übersicht befindet sich auf http://www.sgb.ch/d-download/Forschungbblang.doc
Literatur:
Bauder/Osterwalder (Hrsg.): 75 Jahre eidg. Berufsbildungsgesetz. hep 2008
Caritas (Hrsg.) Sozialalmanach 2009