Der gesetzliche Mindestlohn verhindert, dass Löhne der Berufsleute frei und tief fallen können. Das trägt zu einer Aufwertung der Lehre bei. Denn entgegen allen Behauptungen haben heute rund 40 % aller Tieflöhner/innen eine Lehre absolviert.
Einige Parlamentarier werden nicht müde zu unterstreichen dass ein Mindestlohn die Lehre bedrohe: Weil der Mindestlohn so klar über dem Lehrlingslohn liege, würden die Jugendlichen direkt ab Schulbank arbeiten wollen, ohne noch den Umweg über eine Ausbildung zu machen. Wer solches behauptet, ist allerdings nicht nah am Puls der Jugendlichen. Studien zeigen klar, dass die Jugendlichen unmittelbar nach dem obligatorischen Schulschluss nicht sofort ihr Leben selbständig an die Hand nehmen wollen. Sie wünschen vielmehr einen Beruf zu erlernen, der ihnen gefällt und später wirtschaftliche Sicherheit bietet. Sie sind sich bewusst, dass es einen Abschluss braucht, um in Gesellschaft und Arbeitswelt richtig Fuss zu fassen. Jugendliche, die ohne Not auf eine Ausbildung verzichten und direkt arbeiten wollen, gibt es nur in der Phantasie der Mindestlohngegner.
Verspäteter Eintritt in den Arbeitsmarkt
Die TREE-Längsschnittuntersuchungen, welche die Laufbahn von 15- bis 25jährigen verfolgen, bestätigen, dass direktes Arbeiten nach Schulabschluss immer seltener wird. Aus diesem Grund nimmt denn auch die Zahl von Jugendlichen, die auf eine Lehrstelle hoffen, von Jahr zu Jahr kaum ab – und das trotz ausgeprägter Nachfrage der Firmen. Im Jahr 2013 warteten immer noch 16‘000 Jugendliche auf den Antritt einer beruflichen Ausbildung. Die Kantone ihrerseits beklagen den Erfolg ihrer Übergangslösungen nach Schulabschluss: Zwischen 1990 und 2010 hat sich die Zahl der Jugendlichen in solchen Angeboten praktisch verdoppelt. Die Zahl der Schüler/innen insgesamt dagegen ist nur um 25 % gestiegen. Zudem hat in derselben Zeitspanne der Anteil jener 18jährigen, die sich immer noch in Ausbildung befinden, stark zugenommen. Für das Jahr 2011 schätzt man denn auch, dass nur 4 % aller 15- bis 19jährigen bereits arbeiten. Ein gesetzlicher Mindestlohn wird nichts ändern an der Tendenz, dass sich die Jugendlichen länger ausbilden und ihren Eintritt in den Arbeitsmarkt hinausschieben.
Lehre kein Garant mehr um Familie durchzubringen
Statt den Splitter in den Augen der Initianten sollten die „Verteidiger der Lehre“ besser den Balken in den eigenen suchen. Dann würden sie feststellen, dass es ist nicht ein „Lohndiktat“ ist, das die Lehre heute bedroht, sondern der fehlende oder teilweise überholte Schutz. Wie sonst wäre zu erklären, dass in einem Land, in dem die Lehre eine so immense Bedeutung übernimmt, mehr als ein Drittel der Tieflohnverdiener (unter 4000 Franken) einen Lehrabschluss gemacht haben. Wieso sollen ein Landschaftsgärtner, eine Pflege- oder Pharmaassistentin, ein Musiker, eine Verkäuferin, eine Coiffeuse, ein Taxifahrer, alle mit Berufsabschluss, jahrelang einen so tiefen Lohn bekommen, dass sie keine Familie davon ernähren können? Heute beziehen mehr als 10% aller, die eine Lehre abgeschlossen haben, einen Tieflohn. Für sie hat sich in den letzten Jahren die Lage noch verschlechtert: Zwischen 2002 und 2010 hatten sie einen Reallohnverlust zu beklagen. Die Löhne der bereits gut Verdienenden dagegen haben den Lift genommen, und die Produktivität ist um 6 % gewachsen.
Ein Mindestlohn – um Berufsleute zu schützen
Heute sind nur 40% der Angestellten durch einen GAV mit Mindestlohn geschützt. 60 % aller Angestellten weisen keinen Schutz auf. Was vor 15 Jahren noch haltbar gewesen sein mag, ist es heute nicht mehr. Offene Grenzen und höhere Qualifizierung der europäischen Arbeitnehmenden setzen Schweizer Berufsleute unter Druck. Die Stellung der Berufsbildung beunruhigt die Kleinunternehmer immer mehr. Denn nicht nur das eidgenössische Fähigkeitszeugnis, auch die Abschlüsse der höheren Berufsbildung verlieren nach und nach an Wert in einem international offenen Arbeitsmarkt.
Das ist der Rahmen, innerhalb dessen die grossen Arbeitgeber-Organisationen ihren Kreuzzug gegen würdige Löhne starten. Die gleichen, die gegen ein «Lohndiktat» wettern, foutieren sich oft um Sozialpartnerschaft und zögern nicht, bereits gut ausgebildetes ausländisches Personal anzustellen. Mit ihrer Mindestlohninitiative rücken die Gewerkschaften keinen Haarspalt von ihrem Ziel des Schutzes von Lohn und Arbeitsbedingungen ab. Der gesetzliche Mindestlohn verhindert, dass die Löhne beliebig schmelzen. Dadurch wertet der Mindestlohn heute unterbezahlte qualifizierte berufliche Arbeit wieder auf. Dieser Riegel wird den Lohnrückgang der Berufsleute stoppen, die unter dem Druck der Personenfreizügigkeit stehen. Ein Ja zur Mindestlohninitiative eröffnet deshalb den Jugendlichen neue Perspektiven. Und wer den Berufsleuten würdige Löhne sichert, besorgt auch der Lehre eine Zukunft.