Der Wind beginnt zu drehen!

  • Bildung & Jugend
Artikel
Verfasst durch Peter Sigerist, SGB-Zentralsekretär Bildung

Seit den neunziger Jahren verlangt der SGB von den Betrieben mehr Lehrstellen. Das Angebot soll die Nachfrage der Jugendlichen deutlich übertreffen. Denn nur so können auch die Lehrlinge wie die Gymnasiast/innen ihren persönlichen Wunsch in der Berufswahl verwirklichen. In vielen Regionen der Schweiz trifft dies aufgrund der sinkenden Schüler/innenzahlen nun für eine längere Zeitspanne ein. Die Jungen soll’s freuen. Die Betriebe sollen nicht klagen, sondern das Angebot aufrecht erhalten und attraktiver gestalten.

Seit rund 20 Jahren kamen viele Schulabgänger/innen unter enormen Druck, wenn sie eine Lehrstelle finden wollten, die einigermassen den eigenen Vorstellungen entsprach. Dutzende von Bewerbungen schreiben, das Warten in Zusatzschlaufen (Brückenangeboten), das Bezahlen von Multi- und anderen Checks, das Gefühl, im ohnehin schwierigen Alter der Adoleszenz von der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden – das war für Tausende von 16jährigen die Realität.

77‘000 Jugendliche stehen 81‘000 Lehrstellen offen

Das Lehrstellenbarometer vom April 2011 zeigt nun: Für die 77‘000 Personen, die an einer Lehrstelle interessiert sind, stehen 81‘000 Lehrstellen zur Verfügung – 5000 mehr als 2010. Der Wind auf dem Lehrstellenmarkt beginnt also erstmals zu Gunsten der Jugendlichen zu drehen. Gut so! Ein wirklich optimal funktionierender Lehrstellenmarkt braucht allerdings einen noch grösseren, zehn bis fünfzehnprozentigen Angebotsüberhang, damit die Jugendlichen ihre Chance gemäss ihren Qualifikationen erhalten.

Erfreulich ist ebenso, dass Bund und Kantone im Rahmen der gemeinsamen Bildungsstrategie daran festhalten, dass 2015 die Abschlussquote auf der Sekundarstufe II (Lehr- oder gymnasialer Abschluss) 95 Prozent der Volksschulabgänger/innen umfassen soll. Dieses zuvor mit den Sozialpartnern ausgehandelte Ziel sollte mit den bereits eingeleiteten Massnahmen (Case Management, zweijährige berufliche Grundbildung mit individueller Begleitung, Aufwertung der Berufswahlvorbereitung u.a.m.) erreicht werden können. Es braucht aber weiterhin grosse Anstrengungen und auch mehr Mittel der öffentlichen Hand, damit auch die sozial benachteiligten Jugendlichen zu einem nachobligatorischen Bildungsabschluss geführt werden können. Dass das Parlament in der Sommersession gegen den Willen des Bundesrates zusätzliche 100 Millionen zur Stärkung der Berufsbildung beschlossen hat, rundet die positive Bilanz ab.

 

Berufsbildung versus Allgemeinbildung

Gewerbe- und Berufsverbände beginnen eine fehlende Nachfrage zu befürchten und sprechen fatalerweise von einem „war for talents“ – einem „Kampf um die besten Köpfe“. Der Gewerbeverband-Direktor, H.U. Bigler, lancierte sogar die Forderung nach einer Beschränkung der Maturitätsquote auf 24 Prozent. Das käme in vielen Kantonen einem Numerus clausus für Gymnasiast/innen gleich. Nachdem die Berufswahl der Lehrlinge aufgrund der fehlenden Angebote jahrelang eingeschränkt worden ist, soll diese nun im Bereich der Allgemeinbildung erfolgen. Die fehlende Chancengleichheit in der Berufsbildung in die Allgemeinbildung transferieren? Beides ist verfassungswidrig, gesellschaftspolitisch verwerflich und ökonomisch unsinnig. 

Qualität in der Berufsbildung verbessern

Im Interesse der Jugendlichen müssen nun die Betriebe und die Arbeitgeberverbände statt gegen die ebenso notwendige Allgemeinbildung zu polemisieren, die Qualität der Berufsbildung an vielen Orten aufwerten. Das an sich erfolgreiche System der dualen Berufsbildung (die Wirtschaft übernimmt subsidiär vom Staat und unter dessen Aufsicht die praxisorientierte betriebliche und überbetriebliche Ausbildung, die Kantone bieten den Berufsfachschulunterricht an) soll, unterschiedlich in den einzelnen Branchen, aufgewertet werden:

  • Allgemeinbildender Unterricht: eine zweite Sprache für alle; Aufwertung der gesellschaftspolitischen Kompetenzen. Der neue Volkswirtschaftsdirektor, Bundesrat Schneider-Ammann, hat dazu von der Öffentlichkeit kaum beachtet, die bemerkenswerten Sätze sowohl vor dem Stände- als auch vor dem Nationalrat gesprochen: „Das Bildungssystem darf definitiv nicht allein auf den Arbeitsmarkt ausgerichtet sein. Es muss auch dafür sorgen, dass junge Menschen mit Perspektiven auf ein eigenständiges Leben vorbereitet werden. Das Bildungssystem soll helfen, dass sich junge und erwachsene Bildungswillige zu selbstbewussten, eigenverantwortlichen und kritischen Bürgerinnen und Bürgern entwickeln können.“
  • Die seit Generationen gender-dominierte Selektion bei der Berufswahl: Obwohl das Berufsbildungsgesetz festhält, dass die tatsächliche Gleichstellung von Frau und Mann gefördert werden soll, konnten in diesem Bereich viel zu wenige positive Veränderungen festgestellt werden.
  • Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz: Die Suva-Statistik weist unter den Lernenden eine 70 Prozent höhere Unfallquote gegenüber den Gelernten aus(!).
  • Die betrieblichen Präsenzzeiten der Lernenden wurden in der Folge der Herabsetzung des Jugendschutzalters vielenorts flexibilisiert (mehr Nacht- und Wochenendarbeit).
  • Die Lehrlingslöhne stagnieren seit Jahren.
  • Nur in sehr wenigen Branchen unterstehen die Lernenden dem Schutz der Gesamtarbeitsverträge.
  • Das durch das Berufsbildungsgesetz festgehaltene Mitspracherecht der Lernenden (Artikel 10) wurde nicht konkretisiert.
  • Die Durchlässigkeit innerhalb des Berufs- und zwischen dem Berufs- und dem Allgemeinbildungssystem wurde zwar deutlich verbessert. Es gibt aber auch hier noch Nachholbedarf.

Die Gewerkschaften haben in den vergangenen Jahren diese Anliegen durchaus auch vertreten. Es konnten aber in diesem qualitativen Bereich angesichts der Dominanz der quantitativen Frage nur wenige Fortschritte erzielt werden. In den nächsten Jahren können dank des Rückenwindes für die Jugendlichen leichter Erfolge erzielt werden – vorausgesetzt die Verantwortlichen in den Gewerkschaften hissen die entsprechenden Segel.

Zuständig beim SGB

Nicole Cornu

Zentralsekretärin

031 377 01 23

nicole.cornu(at)sgb.ch
Nicole Cornu
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