Wenn Arbeitsbedingungen psychisch krank machen

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Verfasst durch Luca Cirigliano, SGB-Zentralsekretär

Arbeitszeit weiter erfassen

Wenn es um Arbeitszeiten, Pausen oder Überstunden geht, sind gewisse bürgerliche Politiker für eine „Wild-West-Lösung“: Der Staat soll sich nicht gesetzlich einmischen, die Arbeitsinspektorate sollen nicht kontrollieren. Dass wegen dem Druck am Arbeitsplatz immer mehr Leute erkranken, stört die Deregulierer nicht. Dazu passt, dass sie die Arbeitszeit zunehmend nicht mehr erfassen wollen.

Einen Vorteil haben die ständigen Attacken auf das Arbeitsrecht: Als Folge davon erschienen in kurzer Zeit viele hochkarätige Studien, welche den Zusammenhang zwischen prekären Arbeitsbedingungen, Produktivitätssteigerungen, Globalisierung, Stress und psychischen Krankheitsbildern am Arbeitsplatz vor Augen führen. Diese Studien bestätigen durchs Band die bisherigen Analysen und Forderungen der Gewerkschaften.

Wo GAV, da besser

Die im September neu erschienene Europäische Gesundheitsstudie zeigt: Die Schweiz ist punkto Arbeitsbedingungen, inkl. Mobbing, höchstens im europäischen Mittelfeld, nicht besser. Besonders im Tertiärsektor (Büro-Arbeit, Banken, Handel, Verkauf, Dienstleistungen, etc.) hat sich die Lage innerhalb von fünf Jahren eher verschlechtert. In der Industrie und im Bauhauptgewerbe dagegen sind die Indikatoren für Stress, Lärmbelastungen und sonstige (körperliche) Gesundheits-Risikofaktoren (schwere Lasten tragen ohne Hilfsmittel, Staub, Hitze) eher besser geworden. Es ist wohl kein Zufall, dass genau in den Branchen, in welchen der gewerkschaftliche Organisationsgrad und die Abdeckung mit sozialpartnerschaftlich ausgehandelten GAV höher sind, Fortschritte gemacht werden…

Dagegen sind in denjenigen Branchen, wo leider erst wenige oder gar keine GAV ausgehandelt werden konnten, die Arbeitsbedingungen in der Berichtsperiode schlechter geworden. Das bedeutet meist höheren psychischen Druck am Arbeitsplatz: Weniger Zeit für gleiche bzw. mehr Aufgaben (Termindruck); oder z.B. vermehrt lärmige und ergonomisch nicht angepasste Grossraumbüros. 2005 gaben ca. 70 % der Schweizer Angestellten an, unter zu hohem Tempo arbeiten zu müssen – 2010 waren es bereits 84%! Und laut der „Stressstudie“ des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) geben 25% aller Befragten an, Symptome oder Tendenzen für einen Burn-Out aufzuweisen.

Skandal: Arbeitszeit wird zunehmend nicht mehr erfasst

Was aber wirklich ein Skandal ist: Gewisse Arbeitgeber machen vermehrt Druck, damit Überstunden nicht aufgeschrieben oder Pausen und Ruhezeiten nicht eingehalten werden! Dieses Phänomen äussert sich auch darin, dass heute 16,7% der Arbeitnehmer in der Schweiz ihre Arbeitszeit nicht mehr erfassen (dürfen). Damit kommen deren Arbeitgeber zu einem grossen Teil ihrer gesetzlichen Dokumentationspflicht gegenüber den Arbeitsinspektoraten faktisch nicht mehr nach… Ein eklatanter Gesetzesbruch, der von vielen kantonalen Regierungen toleriert wird!

Dass Arbeitszeiterfassung und damit regelmässig einhergehende Kontrolle und Einhaltung von Pausen und Ruhezeiten zu einem der grössten Widerstandsfaktoren gegen Stress, emotionale Überforderungen, Depressionen oder Schlafstörungen gehört, zeigt eine andere Studie. Darin wird festgehalten, dass die Arbeitszufriedenheit, eines der besten „Gegengifte“ zum krankmachenden Stress, immer dann am Höchsten ist, wenn Arbeitnehmende flexible Arbeitszeiten mit einer unkomplizierten, niederschwelligen Arbeitszeiterfassung (z.B. Apps) kombinieren können. Die Erfahrung zeigt: Wenn Arbeitszeiten nicht erfasst werden, werden in der Tendenz die Ruhezeiten nicht eingehalten, Pausen gehen „vergessen“ und es wird vermehrt auch in der Freizeit (gratis) gearbeitet oder bei Krankheit. Eine Regeneration findet so nicht mehr statt. Weiter können auch Überstunden nicht sauber erfasst werden, wenn der Arbeitgeber die Arbeitszeiterfassung abschafft: Folge davon ist „Gratisarbeit“.

Besonders betroffen: Büro-Arbeit, Banken

Die Studie zeigt weiter: „Gratisarbeit“ in der Form von nicht vergüteten oder kompensierten Überstunden und fehlenden Pausen stresst, macht unzufrieden und in letzter Konsequenz krank. Besonders Büro- und Bank-Angestellte sind hier betroffen: Seit Jahren verbreiten gewisse Arbeitgeber das Märchen, flexible Arbeitszeiten und Arbeitszeiterfassung würden sich gegenseitig ausschliessen. Nun wurde diese Mär entlarvt: Nicht nur ergänzen sich flexible Arbeitszeiten und moderne Formen von Arbeitszeitkontrolle aufs Beste, sondern sie verhindern häufig Stress und gesundheitliche Folgeprobleme wie Burn-Outs oder Depressionen, mit allen ihren (volks-)wirtschaftlichen Folgekosten!

Nicht zu vergessen: Unter arbeitsbedingtem Stress und fehlenden Ruhezeiten leiden besonders Eltern und damit Familien. Speziell Frauen, denen heute noch häufig neben der Erwerbsarbeit auch die unbezahlte Care- und Erziehungsarbeit obliegt, geraten, wenn sie Arbeit und Familie planen wollen, in ein eigentliches „Zeitdilemma“ (vgl. dazu das SGB-Kongresspapier „Arbeitszeit im Einklang mit Familie, Freizeit und Gesundheit“, in: SGB-Dossier Nr. 73, S. 6 ff.). Erwerbstätige Mütter leiden besonders unter der immer poröser werdenden Aufteilung zwischen Frei- und Arbeitszeit und der fehlenden Arbeitszeiterfassung.

Das Fazit in allen Fällen: Die Arbeitszeiterfassung bietet als einzige Massnahme Schutz vor vielen psychisch schädlichen Arbeitsbedingungen; und der Verzicht auf Arbeitszeiterfassung ist eine „Hochrisiko-Tätigkeit“ – sowohl für den Arbeitnehmer (Gefahr, krank zu werden) wie auch für den Arbeitgeber (wirtschaftliche Folgekosten von stressbedingten Krankheiten).

NEIN zu weiteren Arbeitszeit-Deregulierungen, JA zu Arbeitszeitkontrollen

Um die Gesundheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schützen und um eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu ermöglichen, setzt sich der SGB gegen weitere Arbeitszeit-Deregulierungen (z.B. bei den Ladenöffnungszeiten) ein. Wir werden aktuelle parlamentarische Vorhaben wie z.B. die Parlamentarische Initiative Lüscher (09.462), resp. die „Bundesratsvariante“ dazu, welche bei Tankstellenshops eine 24-Stunden-Öffnung (auch an Sonntagen!) vorsehen, wenn nötig mit einem Referendum bekämpfen. Das bereits mehr als genug mit schlechten Arbeitsbedingungen konfrontierte Ladenpersonal hat nämlich etwas Nacht- und Sonntagsruhe verdient. Und aus den gleichen Gründen lehnt der SGB die anderen Deregulierungsvorstösse im Parlament ab: Die Motion Lombardi (12.3637), welche längere Arbeitszeiten für alle Detailhandels-Angestellten einführen möchte; oder die eben erst eingereichte Motion Abate (12.3791), ein erneuter Angriff auf die Arbeitsbedingungen im Detailhandel unter dem fadenscheinigen Vorwand der Tourismusförderung.

Angesichts der klaren wissenschaftlichen Befunde, welche die genannten Studien vorlegen, lehnt der SGB die vom Seco vorgeschlagene Deregulierung der Arbeitsgesetz-Verordnung 1 (Art. 73a ArGV 1) vehement ab. Der SGB sagt NEIN zur Abschaffung der Arbeitszeiterfassung für viele Angestelltenkategorien wie z.B. für gewisse Bank- oder Büroangestellte (siehe entsprechende Vernehmlassung). Und deshalb fordert der SGB auch von den kantonalen Regierungen, dass sie den Arbeitsinspektoraten endlich mehr finanzielle und personelle Ressourcen zur Verfügung stellen, um in den Betrieben ernsthafte und flächendeckende Kontrollen zur Einhaltung der gesetzlich bestimmten Arbeitsbedingungen, inkl. Arbeitszeiterfassung, sicherzustellen!

Zuständig beim SGB

Luca Cirigliano

Zentralsekretär

031 377 01 17

luca.cirigliano(at)sgb.ch
Luca Cirigliano
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