Wenn Arbeit krank macht – Stress, Druck und fehlende Grenzen im Alltag der Beschäftigten

  • Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz
Artikel
Verfasst durch Gabriela Medici

Statt Dauerstress braucht es Gesundheitsschutz und seine konsequente Umsetzung

Immer mehr Menschen in der Schweiz stehen unter Druck. Die Arbeitstage sind lang und die Anforderungen wachsen ständig. Viele Beschäftigte fühlen sich ausgelaugt, bevor die Woche überhaupt vorbei ist. Die neusten Zahlen des Bundesamts für Statistik (BFS) bestätigen, was die Gewerkschaften schon lange beobachten: Der Stress am Arbeitsplatz nimmt zu, die Zahl der Erschöpften steigt – und mit ihr die Absenzen.

Doch statt für mehr Schutz und Entlastung zu sorgen, fordern Arbeitgeber und bürgerliche Politiker noch mehr «Flexibilität». Das ist der falsche Weg – Flexibilität bedeutet dann nämlich, dass Arbeitnehmende fast rund um die Uhr verfügbar sein müssen.

Stress ist Alltag – besonders in der Pflege, im Verkauf und im Service public

In der Pflege hetzen Beschäftigte von Patientin zu Patient, mit zu wenig Personal und kaum Zeit für Pausen. Viele berichten, dass sie nicht einmal dazu kommen, ausreichend zu trinken oder kurz durchzuatmen. Gleichzeitig müssen sie immer mehr administrative Aufgaben erledigen – häufig nach der Schicht und unbezahlt.

Auch im Detailhandel zeigt sich der Druck deutlich: Dienstpläne ändern sich kurzfristig, Beschäftigte werden über Chatgruppen informiert und müssen kurzfristig am Wochenende einspringen. Freizeit und Familienleben lassen sich schwer planen.

Im öffentlichen Dienst und in der Verwaltung ist die Situation kaum besser. Die Arbeitslast steigt, Stellen werden nicht nachbesetzt, und neue digitale Tools beschleunigen nicht nur die Prozesse sondern auch den Stress. Beschäftigte haben das Gefühl, ständig hinterherzurennen und kaum noch Einfluss auf ihr Arbeitspensum zu haben. Wenig überraschend zeigen sich diese Entwicklungen zeigen sich auch in den Zahlen: Fast jede vierte erwerbstätige Person fühlt sich häufig gestresst. (BFS-Gesundheitsbefragung). Mehr als die Hälfte der Beschäftigten gibt an, am Arbeitsplatz mehreren physischen und psychosozialen Risiken gleichzeitig ausgesetzt zu sein – etwa Zeitdruck, monotone Arbeit, fehlende Pausen, Lärm oder schlechte Ergonomie. Besonders betroffen sind Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialwesen, hier erlebt eine von drei Erwerbstätigen regelmässig starken Stress am Arbeitsplatz. Viele von ihnen sind am Limit – mit zunehmender emotionaler Erschöpfung, einem klaren Warnsignal für Burnout.

Flexibilität – aber für wen?

Oft wird behauptet, Arbeit werde «flexibler». In der Realität bedeutet das für viele Beschäftigte mehr Kontrolle von oben und weniger Planbarkeit von unten. In Branchen mit unregelmässigen Arbeitszeiten, etwa im Gastgewerbe, in der Pflege oder im Detailhandel, werden Schichten oft kurzfristig geändert. Wer Familie hat oder auf Kinderbetreuung angewiesen ist, steht dadurch ständig unter Druck. Die Schweizerische Arbeitskräfteerhebung (SAKE) zeigt, dass rund ein Viertel der Arbeitnehmenden ihre Arbeitszeit auf Anordnung der Arbeitgeber einmal wöchentlich kurzfristig anpassen muss – bei einem weiteren Viertel der Arbeitnehmenden geschieht das mindestens einmal pro Monat. (BFS: Arbeitsorganisation und Arbeitszeitgestaltung). 

Gleichzeitig profitieren vor allem Männer mit höherer Ausbildung von echter zeitlicher Flexibilität. Personen mit höherer Ausbildung und höherer beruflicher Stellung verfügen häufiger über die Möglichkeit, ihre Arbeitszeit selbst zu gestalten. Frauen, junge Arbeitnehmende und Personen in Dienstleistungsberufen haben deutlich geringere Spielräume. In Branchen wie Pflege, Gastgewerbe und Detailhandel führen kurzfristige Änderungen der Einsatzpläne häufig zu Vereinbarkeitsproblemen zwischen Beruf und Familie.

Absenzen nehmen zu – weil Arbeit krank macht

Wenn Beschäftigte erschöpft, ausgebrannt oder verletzt sind, fehlen sie irgendwann. Gesundheitsbedingte Absenzen stellen den mit Abstand häufigsten Abwesenheitsgrund in der Schweiz dar, im 2024 entsprachen sie 330 Millionen Absenzenstunden, diese Zahl ist in den letzten fünfzehn Jahren um über 50 % gestiegen. (BFS). Im Durchschnitt fehlen Arbeitnehmende heute etwa neun Arbeitstage pro Jahr, in Berufen mit hohem Belastungsdruck, etwa in der Pflege liegt die Zahl deutlich höher. Arbeitsbezogener Stress kostet die Wirtschaft rund 6,5 Mrd. CHF (Gesundheitsförderung Schweiz)

Gesundheitsschutz statt Dauerstress

Stress, Erschöpfung und Absenzen sind keine Randerscheinungen mehr. Immer mehr Arbeitnehmende geraten an ihre Grenzen – nicht, weil sie «zu wenig belastbar» wären, sondern weil Arbeitsbedingungen, Personalressourcen und Erholungszeiten vielerorts nicht mehr zusammenpassen. Trotz dieser Entwicklung bleibt der gesetzliche Gesundheitsschutz oft auf dem Papier. In vielen Kantonen sind die Arbeitsinspektorate chronisch unterbesetzt, so dass Kontrollen der Arbeitszeiten und Gesundheitsrisiken nur punktuell bzw. auf Beschwerde hin stattfinden können. Gerade psychosoziale Belastungen – wie Stress, Zeitdruck oder Übermüdung – werden kaum erfasst oder systematisch überwacht. Hinzu kommt, dass es in der Schweiz nur rund 130 Arbeitsmediziner:innen gibt – das entspricht einem oder einer für 20 000 Arbeitnehmende. Zum Vergleich: In Deutschland ist die Quote 1 zu 10 000, in Frankreich 1 zu 6 000. Diese Lücke erschwert eine flächendeckende Prävention und eine unabhängige Beurteilung arbeitsbedingter Gesundheitsrisiken. Ohne genügend Fachpersonal bleibt der präventive Gesundheitsschutz weitgehend wirkungslos.

Konsequente Umsetzung des Gesundheitsschutzes nötig

Wer die Gesundheit der Beschäftigten ernst nimmt, muss deshalb den Vollzug stärken, die Arbeitsmedizin ausbauen und den Schutz am Arbeitsplatz konsequent durchsetzen. Dazu gehören klare Grenzen der Belastung, planbare Arbeitszeiten, ausreichende Erholungsphasen und das Recht auf Nichterreichbarkeit. Nur wenn der Gesundheitsschutz tatsächlich wirkt und nicht nur auf dem Papier steht, bleibt Arbeit auf Dauer produktiv, gerecht – und menschenwürdig.

Zuständig beim SGB

Gabriela Medici

Co-Sekretariatsleiterin

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Gabriela Medici
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