Tessiner Staatsrat verweigert Gewerkschaften Zugangsrecht

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Verfasst durch Ewald Ackermann

Unglaublich, aber wahr: Der Tessiner Staatsrat erlässt für die Gewerkschaften ein Betretungsverbot. Das widerspricht der verfassungsmässig verankerten Koalitionsfreiheit. Zudem schränkt er die gewerkschaftliche Äusserung noch weiter ein – als ob wir noch im Zeitalter des Absolutismus lebten.

„Einen Entscheid, der in diesem Ausmass verfassungswidrig ist, gab es in der Schweiz noch nie. Die Rechte aller Arbeitnehmenden im Kanton Tessin sind gefährdet.“ Es tönt dramatisch in der Resolution des kantonalen Gewerkschaftsbundes Tessin vom 3. Dezember 2011. Die dramatische Rhetorik entspricht jedoch der Wirklichkeit. – Doch alles schön der Reihe nach.

Am 29. November 2011 publiziert der Tessiner Staatsrat in einem Schreiben an die Personalverbände seinen Entscheid hinsichtlich gewerkschaftlicher Tätigkeit in der kantonalen Verwaltung. Darin verfügt die Regierung für die Gewerkschaften des Staatspersonales: Der Zugang zu kantonalen Gebäuden zwecks gewerkschaftlicher Tätigkeit ist grundsätzlich verboten.  Wollen die Gewerkschaften ausserhalb der Arbeitszeiten für Themen des Staatspersonals einen Saal der Verwaltung nutzen, dann hat dies die Staatskanzlei zu bewilligen. Schliesslich soll die Verteilung von gewerkschaftlichem Infomaterial über die Informations- und Abwartsdienste der Verwaltung laufen. 

Dieser Entscheid des Staatsrates widerspricht der Verfassung. Rechtsanwalt Arthur Andermatt, Spezialist für solche Fragen, hält unmissverständlich fest: „Aus dem kollektiven Koalitionsrecht der neuen Bundesverfassung lässt sich auch ein Zutrittsrecht der Gewerkschaften in die Betriebe ableiten.“[1] Die Grenzen der zulässigen Werbung der Gewerkschaften im Betrieb seien allein „der ordnungsgemässe Betriebsablauf und der Betriebsfrieden, die nicht gestört werden dürfen“, so der Experte weiter. Informations- und Werberecht im Betrieb stützten sich direkt auf die Verfassung, „auf die geschützte gewerkschaftliche Betätigung.“ Und Jean Christophe Schwaab, SGB-Arbeitsrechtler, hält fest: „Dieser Entscheid der Tessiner Regierung ist umso unverständlicher, als von der öffentlichen Hand eine erhöhte Sensibilität für die Sozialpartnerschaft erwartet werden darf.“

Für den SGB ist deshalb klar: die Tessiner Regierung hat diesen skandalösen Entscheid zurückzunehmen. Das fordert auch der direkt betroffene VPOD, der in diesem Fall von der OCST (christliche Gewerkschaft) und CCS (freisinnige Beamtenorganisationen) unterstützt wird. Der VPOD hat denn auch einen Anwalt beauftragt, um Rekurs zu erheben. 

Wieso aber ist die kantonale Regierung schon nur auf diese abstruse Idee gekommen? Das „Tatmotiv“ scheint kein Geheimnis zu sein. Der VPOD hatte 2010 dem Staatspersonal Flugblätter gegen den Leistungslohn verteilt, den ein neues Personalgesetz vorsah. In der Folge hatte die Tessiner Stimmbevölkerung die entsprechende  kantonale Vorlage bachabgeschickt. 

Nur: Racheerlasse werden nicht besser, wenn man aus der Position des Verlierers agiert. 

 


[1] Siehe A. Andermatt: Die Gewerkschaften. In: plädoyer 5/04, S. 42 bis 46.

Zuständig beim SGB

Luca Cirigliano

Zentralsekretär

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luca.cirigliano(at)sgb.ch
Luca Cirigliano
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