Schweizer Kündigungsrecht ist menschenrechtswidrig

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Verfasst durch Luca Cirigliano

Folgen eines neuen EGMR-Urteils

Ein neues Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) bestätigt: Das Schweizer Obligationenrecht (OR) wirkt bei antigewerkschaftlichen Kündigungen nicht abschreckend genug.

In einem neuen Urteil hat der EGMR (Tek Gida Is Sendikasi gegen die Türkei, vom 4. Apirl 2017) die Rechtslagen zum nötigen Schutz vor antigewerkschaftlichen missbräuchlichen Kündigungen präzisiert. Fazit: Die Regelung des Schweizer Obligationenrechts (OR) in Art. 336a, dass bei missbräuchlichen antigewerkschaftlichen Kündigungen von Personalvertretern, Stiftungsräten von Pensionskassen oder Whistleblowern ein Gericht maximal 6 Monatslöhne als Entschädigung gewähren kann, ist kein effektiver Rechtsschutz, da nicht abschreckend genug.

Sachverhalt des EGMR-Urteils

Ein türkisches Unternehmen kündigt mehreren Mitgliedern der Gewerkschaft. Es gibt als Kündigungsgrund "wirtschaftliche Gründe (Marktschwankungen) oder berufliche Mängel (fehlende Leistung)" an. Das zuständige letztinstanzliche Gericht in der Türkei bewertet die Kündigungen jedoch als missbräuchlich, weil sie aufgrund der Gewerkschaftsmitgliedschaft der Arbeitnehmenden ausgesprochen worden seien. Dieses Gericht verurteilt den Arbeitgeber in Anwendung der einschlägigen Gesetze entweder zur Zahlung eines Jahreslohnes oder zur Wiedereinstellung der Arbeitnehmenden. Der Arbeitgeber entscheidet sich zur Zahlung der 12 Monatslöhne.

Aufgrund der Klage der Gewerkschaft musste sich nun der EGMR mit der Frage auseinandersetzen, ob bei missbräuchlicher antigewerkschaftlicher Kündigung die Bezahlung einer Entschädigung in der Höhe von 12 Monatslöhnen ausreiche oder ob nicht immer dem Arbeitnehmenden zu ermöglichen sei, sich für die Wiedereinstellung zu entscheiden.

Rechtserwägungen des EGMR

Im Urteil, das nun begründet vorliegt, bekräftigt der EGMR, dass Art. 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) die Gewerkschaftsfreiheit als besonderen Aspekt der Vereinigungsfreiheit garantiert und dass der Staat verpflichtet ist, den Genuss dieser Freiheit zu gewährleisten. Zwar existiere bei Verletzungen, welche den Kern der Gewerkschaftsfreiheit tangieren, ein Ermessensspielraum des nationalen Gesetzgebers. Dazu zähle auch die antigewerkschaftliche Kündigung. Der Ermessensspielraum sei aber sehr eng auszulegen. Indem der Arbeitgeber den Schadensersatz statt der Wiedereinstellung gewählt habe, hätte die Gewerkschaft all ihre Mitglieder innerhalb des Betriebs verloren. Dies tangiere ebenso den Kern der Gewerkschaftsfreiheit, nun der Gewerkschaft selbst.

Beim Schutz vor antigewerkschaftlichen Kündigungen sei deshalb eine sorgfältige Prüfung betreffend der Wirkung des Schutzes durch das Gesetz nötig. Es sei zu analysieren, ob die gesetzliche Sanktion gegen den Arbeitgeber so abschreckend sei, dass sie auch eine abschreckende Wirkung bei tiefen Löhnen der Arbeitnehmenden oder grosser Finanzkraft des Unternehmens besitze. Dies sei bei der türkischen Gesetzgebung nicht der Fall, da der Arbeitgeber einerseits die Wahl habe, eine Entschädigung zu zahlen oder eine Wiedereinstellung zu machen, auf der anderen Seite bei geringen Löhnen eine Entschädigung in der Höhe eines Jahreslohnes nicht immer abschreckend wirke. Daraus schliesst der EGMR, dass die Anwendung des türkischen Gesetzes nicht ausreichend abschreckende Sanktionen für Arbeitgeber beinhaltet.

Zur Erinnerung: das türkische Gesetz sieht bei antigewerkschaftlichen Kündigungen, wenn keine Wiedereinstellung erfolgt, mindestens die Auszahlung von 12 Monatslöhnen als Entschädigung vor...

Handlungsbedarf für die Schweiz

Also doppelt so viel wie in der Schweiz! "Unser" Art. 336a OR sieht bei missbräuchlichen Kündigungen eine Maximal(!)-Entschädigung von 6 Monatslöhnen vor. Die Gerichte begnügen sich dabei, wie eine jüngst vorgestellte Studie der Universität St. Gallen/FAA-HSG gezeigt hat, mit mickrigen 2-3 Monatslöhnen. Sie schöpfen den Rahmen von 6 Monatslöhnen fast nie aus. Angesichts der eindeutigen Vorgaben des EGMR ist also klar: Das Schweizer Kündigungsrecht im Falle der missbräuchlichen Entlassungen wegen Grundrechtsausübung ist in keiner Weise EMRK-konform.

Bereits vor einigen Jahren hatte der SGB bei der ILO wegen fehlendem Kündigungsschutz für Vertrauensleute, Mitglieder von Personalkommissionen sowie Stiftungsrätinnen und -räte von Pensionskassen eine Beschwerde eingereicht. Diese wurde von der ILO gutgeheissen. Aufgrund der Klage des SGB stellte die ILO fest, dass Art. 336 OR nicht den völkerrechtlichen Vorgaben entspricht, welche die Schweiz ratifiziert hat, und an die sie gebunden ist. Insbesondere widerspricht diese Praxis den ILO-Konventionen 87 und 98 zum Schutz der Gewerkschaftsfreiheit. Trotzdem wurde eine Anpassung des Gesetzes nicht an die Hand genommen. Alle bisherigen Vorschläge zu einer Verbesserung hat der Bundesrat aufgrund des Drucks der Arbeitgeber und rechtsbürgerlicher Parteien wieder schubladisiert. Wie der jüngste EGMR-Entscheid zeigt, ist diese Vogel-Strauss-Politik des Bundesrates wenig nachhaltig. Früher oder später wird auch der EGMR, so wie die ILO, die Schweiz wegen Missachtung von Art. 11 EMRK verurteilen. Es wäre wünschenswert, dass es nicht so weit kommt. Den Opfern von antigewerkschaftlichen Kündigungen würde menschliches Leid erspart, wenn das OR schnell revidiert würde. Der SGB ist bereit, konstruktiv mitzuwirken.

Zuständig beim SGB

Luca Cirigliano

Zentralsekretär

031 377 01 17

luca.cirigliano(at)sgb.ch
Luca Cirigliano
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