Die Asbest-Katastrophe ist auch in der Schweiz nicht bewältigt, asbestbedingte Erkrankungen werden in den nächsten Jahren zunehmen. Um die Katastrophe einzudämmen, braucht es vor allem ein neues Verjährungsrecht, einen Entschädigungsfonds für Opfer, die bisher ihre Ansprüche kaum geltend machen konnten, sowie vermehrte Prävention.
Asbest galt lange als hoch attraktiver Werkstoff und wurde ab etwa 1930 in grossen Mengen industriell verwendet und verbaut. Die gesundheitsschädigenden Auswirkungen und tödlichen Folgen von Asbest waren früh bekannt. Trotzdem bedurfte es in den 1980er Jahren einer grossen Kampagne des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB), bis die Schweiz ein generelles Asbestverbot erliess (in Kraft seit 1990, mit Übergangsfristen bis 1994). Das war später als in den skandinavischen Ländern, aber Jahre vor den meisten anderen Staaten. Seit 2005 ist Asbest EU-weit verboten.
Die Folgen der Asbest-Katastrophe sind allerdings auch in der Schweiz alles andere als bewältigt, im Gegenteil. Das liegt zum einen an der langen Latenzzeit bis zum Ausbruch der Krankheit, die von zwanzig bis fünfzig Jahren reicht. Studien gehen davon aus, dass die Zahl der Erkrankungen in den nächsten Jahren ansteigen wird und das Plateau zwischen 2015 und 2030 erreicht werden sollte. Zum anderen kommt für die vor 1990 erstellten Gebäude jetzt die Phase der Sanierung und Renovation. Schätzungen gehen davon aus, dass 85% der Gebäude, die vor dem Verbot gebaut wurden, Asbest enthalten. Das allein schon zeigt den akuten Handlungsbedarf. In den letzten 25 Jahren ist zwar einiges geschehen. Zu denken ist vor allem an die Abdeckung der Berufskrankheiten durch das Unfallversicherungsgesetz (UVG) und den Ausbau der Prävention durch die Suva. Andere wichtige Fragen und Aufgaben bleiben aber ungelöst.
Weil es endlich eine umfassende Antwort auf die Asbest-Katastrophe braucht, fordert der SGB den Bundesrat auf, die massgebenden Akteure zu einem runden Tisch einzuladen. Gleichzeitig hat der SGB in Eingaben an den Bundesrat, die Kantonsregierungen und die Suva die wichtigsten Fragen thematisiert, die gelöst werden müssen.
Ungelöst ist zunächst das Verjährungsproblem. Es ist schreiendes Unrecht, dass Schädigungen durch Asbest verjähren, bevor die Krankheit ausgebrochen ist. Nicht nur der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mit einem neuen Entscheid vom 11. März 2014 festgestellt, dass das schweizerische Verjährungsrecht bzw. die bundesgerichtliche Rechtsprechung dazu die Menschenrechte verletzen. Auch der Bundesrat hat mit der Botschaft zum neuen Verjährungsrecht den Handlungsbedarf anerkannt. Leider ist die vom Bundesrat vorgeschlagene Verlängerung der Verjährungsfrist auf 30 Jahre – die nun vom Nationalrat wieder auf 20 Jahre verkürzt wurde – mit Blick auf die Latenzzeiten bei weitem nicht ausreichend, um das Problem der Spätschäden zu lösen. Noch untauglicher wird der Entwurf, wenn die neue Regelung nur für Betroffene gelten soll, die beim Inkrafttreten nach der bisherigen Lösung noch nicht verjährt sind. Die vorgeschlagene Regelung würde also niemandem helfen, der vor 2004 der schädigenden Wirkung von Asbest ausgesetzt war. Eine menschliche und menschenrechtskonforme Lösung für Asbesterkrankungen ist das nicht.
Richtig wäre und ist es, die Verjährung generell erst ab Ausbruch der Krankheit laufen zu lassen. Und die neue Regelung muss für alle Erkrankungen unabhängig vom Zeitpunkt der schädigenden Einwirkung gelten. Das sind elementare und unmittelbar einleuchtende Forderungen, hinter die niemand zurückgehen kann, der den Asbestopfern endlich Gerechtigkeit widerfahren lassen will.
Soweit das Parlament davor zurückschreckt, die neue Verjährungsregelung auf alle Personenschäden unbesehen anzuwenden, könnte eine Kompromisslösung immerhin darin bestehen, sie auf die Asbesterkrankungen zu beschränken. Dass Bundesrätin Sommaruga während der Debatte im Nationalrat für diesen neuen, noch nicht diskutierten Ansatz eine gewisse Offenheit angedeutet hat, zeigt, dass eine konkrete Lösung für ein konkretes Problem, nämlich für die akute Asbestproblematik, mit einem Minimum an gutem Willen näher liegt als viele meinen. Es kann doch nicht sein, dass Asbesterkrankte und ihre Angehörigen auch nach dem Inkrafttreten der Revision weiterhin um ihre Ansprüche geprellt werden.
Nur am Rande: Auch das Bundesgericht hätte es in der Hand, mit einer vernünftigen – und EMRK-konformen – Auslegung der heutigen Verjährungsregeln dafür zu sorgen, dass Forderungen nicht verjähren können, die (mangels Erkrankung) noch gar nicht entstanden sind. Die stossende heutige Rechtspraxis war vom Gesetzgeber des OR vor über 100 Jahren jedenfalls nicht gewollt.
Darüber hinaus sollte zur Bewältigung der Asbest-Katastrophe die Schaffung eines Entschädigungsfonds zur Vergangenheitsbewältigung an die Hand genommen werden. Es geht dabei vor allem um Geschädigte, die dem UVG nicht unterstellt sind, aber auch generell um Opfer, die keine Ansprüche mehr geltend machen können. Zu äufnen wäre ein derartiger Fonds zur Vergangenheitsbewältigung in erster Linie durch die Wirtschaft.
Mit Blick auf die künftigen Probleme im Umgang mit Asbest muss auch die Prävention – und ihre tatsächliche Umsetzung - ausgebaut werden. Wegen der gewaltigen Mengen von Asbest, die in den vor 1990 erstellten Gebäuden verbaut worden sind, ist in Anlehnung an die entsprechende Praxis in der Suisse Romande zu fordern, dass eine Baubewilligung nur erteilt wird, wenn eine Analyse auf Asbestvorkommen nachgewiesen werden kann. Sollte eine schweizweite Regelung auf kantonaler Ebene nicht möglich sein, wäre der Bund gefordert. Es darf jedenfalls nicht in Kauf genommen werden, dass noch mehr Menschen den schädigenden Asbestfasern ausgesetzt werden. Die beim Abbruch und Umbau von Gebäuden eingesetzten Arbeiter gehören nicht zu den Privilegierten und tragen grosse Risiken. Umso mehr müssen sie geschützt werden.
Schliesslich können die grossen Ausgaben, die der Suva aus der Asbest-Problematik erwachsen, nicht einseitig auf gewerbliche Branchen wie jene der Schreiner und der Zimmerleute abgewälzt werden. Es braucht auch hier einen angemessenen Ausgleich im ganzen Versichertenkollektiv.
Die Schweiz darf die aus der Asbest-Katastrophe folgenden Probleme nicht länger vor sich herschieben. Dafür ist jetzt das gemeinsame Handeln aller Akteure notwendig.