Es ist ein Tabubruch: Der symbolisch am meisten aufgeladene Gesamtarbeitsvertrag in der Schweiz, der GAV-MEM, das Vertragswerk in der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie, legt neu Mindestlöhne fest.
Die Verhandlungen begannen im November 2012. Im Frühjahr 2013 waren sie ernsthaft gefährdet. Anfang Mai war der Beizug eines Mediators in der Person von Ex-Seco-Arbeitsdirektor Jean- Luc Nordmann nötig. Anfangs Juni dann der Durchbruch in den Verhandlungen: Unia konnte sich mit ihrer Forderung nach Mindestlöhnen in diesem GAV durchsetzen. Das Novum kann wohl nur richtig einschätzen, wer die hohe symbolische Bedeutung dieses Vertragswerks kennt, das auf das mythische Friedensabkommen von 1937 zurückgeht. Die Löhne hätten allein die Betriebe zu regeln, so lautete über ein Dreivierteljahrhundert erfolgreich das Dogma der Arbeitgeber. Nun – das Dogma ist gefallen.
„Unser Nullmeridian“
Der neue GAV-MEM definiert Mindestlöhne je für Ungelernte und für Qualifizierte und stuft diese nach drei Lohnregionen ab. In der Region A betragen die Jahreslöhne 50‘050 Franken für Ungelernte und 53‘950 Franken für Qualifizierte. In der Region B betragen die gleichen Werte 46‘800 Franken für Ungelernte und 50‘700 Franken für Qualifizierte. Und in der Region C (Tessin und Jurabogen): 42‘900 Franken für Ungelernte und 46‘800 Franken für Qualifizierte. Umgerechnet auf die Stundenlöhne ergibt das folgende Beträge:
Region A: 24,10 Fr. resp. 25,90 Fr.
Region B: 22,50 Fr. resp. 24,40 Fr.
Region C: 20,60 Fr. resp. 22,50 Fr.
Wer diese Vertrags-Minimallöhne an der SGB-Mindestlohninitiative misst, stellt rasch fest, dass nur in einem Fall deren Forderung von 22 Franken pro Stunde unterschritten ist. Unia-Industriechef Corrado Pardini gesteht denn auch: „Manche der Löhne sind zu tief. Es war ein schwieriger Entscheid. Entweder kein GAV, also auch keine Mindestlöhne. Oder ein GAV, der zum ersten Mal in der MEM-Geschichte Mindestlöhne festmacht. Wir haben uns für den Durchbruch entschieden. Entscheidend dabei: Es gibt jetzt klare Grenzen gegen das Dumping. Und wir arbeiten an ihrer Verbesserung […] Diese Mindestlöhne sind jetzt unser Nullmeridian.“(work, 7.6.2013). Bliebe nachzutragen, dass in der Region C nur 6 % der entsprechend Beschäftigten arbeiten und dass der Abschluss im Tessin für viele Arbeitnehmende Lohnerhöhungen von bis zu 700 Franken pro Monat bedeutet.
Gesetzlicher Mindestlohn bleibt nötig
SGB-Präsident Paul Rechsteiner hat denn auch die Festlegung von Mindestlöhnen als „historischen Durchbruch“ bezeichnet. Historische Durchbrüche haben immer Nachzügler. Das heisst: Die Gewerkschaften werden weiterhin darauf beharren, via GAV neu Mindestlöhne festzulegen. Und wo dies nicht möglich ist, wird die entsprechende Volksinitiative des SGB für gesetzlichen Ersatz sorgen. Denn auch mit dem neuen MEM-Abschluss kommen bloss gut 40 % aller GAV-Unterstellbaren in den Genuss eines GAV-Mindestlohnes. Gleichzeitig sind Tieflöhne (3986.-/Monat für 2010) weit verbreitet: 437‘000 Menschen, d.h. 12 % der Arbeitnehmenden in der Schweiz, waren 2010 zu solch miesen Konditionen angestellt. Angesichts dieser Daten ist die Deutung des MEM-Abschlusses durch Swissmem-Sprecher Ivo Zimmermann etwas gar voreilig: "Mit dem neuen Vertrag setzen wir ein Zeichen, dass Lohnfragen auf Betriebs- und Branchenebene gelöst werden sollten und nicht durch staatliche Regeln." Die Realität zeigt, dass solche Zeichen längst nicht überall gehört werden. Im Schuhhandel, im Detailhandel und im Gartenbau, um nur drei besonders virulente Beispiele zu nennen, dominiert die Verweigerungsfront gegenüber Gesamtarbeitsverträgen. Das zeigt, dass es den gesetzlichen Mindestlohn als Ergänzung und als unterste Schutzlimite braucht.
Weitere Punkte des MEM-Abschlusses
- Mehr Flexibilität bei der Arbeitszeit: Die Arbeitgeber können künftig bis zu 200 Stunden Überzeit ins neue Jahr übertragen. Bisher waren es 100 Stunden.
- Neue Regelung des „Krisenartikels": Sie ermöglicht Firmen bei ausserordentlichen Umständen in Absprache allein mit dem Personal (bisher unter Beizug der Gewerkschaft) die Arbeitszeit befristet nach oben anpassen.
- Andere Verbesserungen: Vaterschaftsurlaub von einer Woche, Förderung flexibler Arbeitsmodelle wie Job Sharing, die Stärkung der Berufsbildung sowie die Förderung von Mitarbeitenden, insbesondere Auszubildenden und Frauen.
Der neue GAV gilt für annähernd 100'000 Beschäftigte. Der Vertrag wird am 1. Juli 2013 in Kraft treten und bis 2018 gelten. Er bedarf noch der Ratifizierung der zuständigen Organe auf beiden Seiten.