Die Regierungen der EU-Staaten haben einer wegweisenden «Mindestlohnrichtline» zugestimmt. Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten, die Mindestlohnlücken zu schliessen. Sie ist ein grosser Erfolg der europäischen Gewerkschaftsbewegung, zu der auch die Schweizer Gewerkschaften gehören. Der Europäische Gewerkschaftsbund hat sich seit mehr als 15 Jahren für mehr Gesamtarbeitsverträge und Mindestlöhne in Europa eingesetzt. Die Schweiz muss diese Richtlinie auch übernehmen.
Bessere Löhne für 24 Millionen Berufstätige
Mit dem Entscheid der europäischen Regierungen hat die Mindestlohnrichtlinie die voraussichtlich letzte Hürde genommen. Die EU hat neu einen Richtwert für all jene Länder, welche gesetzliche Mindestlöhne kennen. Sie müssen diese auf 60 Prozent des Medianlohnes (die eine Hälfte liegt darüber, die andere darunter) heben. Und sie sollen für alle Branchen gelten. Bei einer schnellen Umsetzung würden so 24 Millionen Lohnabhängige substanzielle Lohnerhöhungen erhalten. 5 Millionen Menschen allein in Rumänien, 4 Millionen in Italien!
Neu will die Richtlinie in allen Ländern auch die Kollektivverträge fördern. Sie müssen mit Gewerkschaften und nicht mit Pseudovertretungen ausgehandelt werden. Zudem dürfen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter wegen ihrer Aktivitäten nicht diskriminiert werden. Und GAV müssen eingehalten werden, wozu es Kontrollen und abschreckende Sanktionen braucht.
In Ländern, wo weniger als 80 Prozent der Lohnabhängigen einem GAV unterstehen, müssen Aktionspläne zur GAV-Förderung erstellt werden. Zum Beispiel bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen und Konzessionierungen.
Meilenstein der Europäischen Gewerkschaftsbewegung, zu der auch die Schweiz gehört
Die Mindestlohnrichtlinie ist der erfolgreiche Abschluss einer gewerkschaftlichen Offensive für mehr Gesamtarbeitsverträge und Mindestlöhne in der EU. Diese begann Mitte der 2000er-Jahre. Die Schweizer Gewerkschaften haben sich aktiv daran beteiligt. Sie haben die Forderung einer europäischen Mindestlohnpolitik zusammen mit den Gewerkschaften aus Deutschland und Frankreich lanciert und bei den weiteren Entwicklungen mitgewirkt. Es ist insbesondere das Verdienst der europäischen Gewerkschaften, dass neben dem staatlichen Mindestlohn auch die Förderung von Kollektivverträgen in der Richtlinie enthalten ist.
Schweiz: Flankierende gewährleisten, Mindestlohnrichtlinie übernehmen
Die Schweiz muss diese Richtlinie ebenfalls übernehmen. Dank der Flankierenden Massnahmen hat die Schweiz die wirksamsten Instrumente zur Durchsetzung der gesamtarbeitsvertraglichen Mindestlöhne in Europa. Doch leider ist nur rund die Hälfte der Berufstätigen in unserem Land durch Gesamtarbeitsverträge geschützt. Die Schweiz braucht mehr Gesamtarbeitsverträge, damit die Löhne und Arbeitsbedingungen besser werden – insbesondere im Detailhandel, in der Logistik, im Journalismus oder in der Landwirtschaft.
Der SGB wird sich zusammen mit den Schwestergewerkschaften in Europa weiterhin konsequent dafür einsetzen, dass die Flankierenden Massnahmen in den Verhandlungen zu den institutionellen Fragen gesichert bleiben. Und er setzt sich mit den europäischen Gewerkschaften dafür ein, dass die Durchsetzung der Mindestlöhne an den Arbeitsplätzen verbessert wird.
Weitere Regulierungslücken schliessen
Am 25. Februar hat der Bundesrat angekündigt, mit dem Abbau von «Regulierungsunterschieden» die bilateralen Beziehungen der Schweiz zur EU stabilisieren zu wollen.
Dieser Ansatz macht Sinn. Darum sollten einige der im Februar-Bericht diskutierten Regulierungslücken so rasch als möglich geschlossen werden. Dies gilt namentlich für die Kernbestimmungen der Unionsbürgerrichtlinien (Familiennachzugs- und Sozialhilferechte), die Gleichbehandlung aller EU-Bürger:innen bei der Erteilung von Niederlassungsbewilligungen, den verbesserten Zugang zu Bildung und Berufsausbildung für Grenzgänger:innen und deren Familienangehörige sowie generell für die verbesserte Anerkennung von Berufsqualifikationen.
Nicht nachvollziehbar ist, warum der Bundesrat «Regulierungsunterschiede» im Bereich der Arbeitsgesetzgebung aus diesen Überlegungen ausblendet. Denn ein Nachvollzug der arbeitsrechtlichen EU-Standards würde nicht nur die Binnenmarkt-Integration sondern auch die Rechte der Arbeitnehmenden in der Schweiz stärken.
Die Gewerkschaften haben den Bundesrat darum wiederholt aufgefordert, den Nachvollzug der wesentlichen Bestimmungen aus den Richtlinien zur Leiharbeit (Equal pay im Personalverleih), zu Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz und zu betrieblicher Mitwirkung an die Hand zunehmen und zudem einen Beitritt zur Europäischen Arbeitsagentur (ELA) und zur Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (Eurofound) anzustreben. Weiter haben sie ihn auf weitere, sozial fortschrittliche EU-Richtlinien u.a. gegen falsche Selbständigkeit in der Plattformarbeit, zur Überwindung des Gender-pay-gaps, sowie für eine stärkere Unternehmensverantwortung hingewiesen, welche die EU erarbeitet.