Wieso ist der GAV-Abdeckungsgrad in der Schweiz so mager? Wieso ist ein höherer Abdeckungsgrad nötig? Und was ist zu tun, damit dieser erreicht wird? Das sind die drei zentralen Fragen, auf die – materialreich – das SGB-Dossier 95 antwortet.
In der Schweiz profitiert nur rund die Hälfte der Beschäftigten von einem GAV. Damit unterscheidet sich die Schweiz von anderen OECD-Ländern ohne gesetzlichen Mindestlohn wie z.B. den nordischen Staaten oder unserem Nachbarland Österreich, die eine viel höhere Abdeckung mit GAV aufweisen. Die Autoren, Daniel Lampart und Daniel Kopp, belegen anhand einer länderweisen Betrachtung, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad (wie viele Arbeitnehmende sind Mitglieder bei Gewerkschaften?) allein den GAV-Abdeckungsgrad nicht zu erklären vermag. Sie weisen nach, dass viele Staaten einen tiefen gewerkschaftlichen Organisationsgrad durch Massnahmen „kompensieren“, die den Abschluss resp. die Reichweite von GAV verbessern („schlanke“ Handhabung der Allgemeinverbindlichkeit (AVE), Verhandlungspflicht für Arbeitgeber, Vorgaben beim öffentlichen Beschaffungswesen).
Eine höhere GAV-Abdeckung ist ein probates Mittel gegen zunehmenden Druck auf Löhne und Lohnbedingungen und führt zu mehr Verteilungsgerechtigkeit. Die Tatsache, dass sich bedeutende Kreise der Arbeitgeber weigern, einen GAV abzuschliessen (u. a. swissmechanic, der Schuhhändlerverband, Swissretail, ASTAG, Landwirtschaft), legt nahe, dass die Schweiz die gesetzlichen Instrumente zur Unterstützung von GAV zu fördern hat. Geradezu beispielhaft zeigen dies die internationalen Bekleidungsunternehmen H&M und C&A: Diese haben, weil da die Vorschriften strikter gefasst sind, GAV in anderen Ländern wie beispielsweise in Österreich – und leben gut damit. In der Schweiz verweigern sie sich einem GAV.
AVE erleichtern
Es zeigt sich deshalb an, die Hürden für die AVE abzubauen. Es ist vor allem das sogenannte Arbeitgeberquorum zu streichen (mindestens die Hälfte der Arbeitgeber der Branche müssen am vertragsabschliessenden Arbeitgeberverband beteiligt sein, damit der GAV ausgeweitet werden kann). Diese Bestimmung ermöglicht einigen Kleistfirmen, eine GAV-Ausweitung auszubremsen. Sie ist im europäischen Vergleich mehr als unüblich. Nur gerade Spanien hat ein solches Arbeitgeberquorum erlassen, setzt es aber im Unterschied zu den schweizerischen 50 % bei 10 % an. Zudem skizzieren die Autoren den Vorschlag des SGB, beim Nachweis eines öffentlichen Interesses (Dumpinggefahr u.a.), einen GAV ohne Quoren allgemeinverbindlich erklären zu können.
GAV-Verhandlungen fördern
Besteht ein solches „öffentliches Interesse“, so sollten die tripartiten Kommissionen oder die Volkswirtschaftsdepartemente die Vertragsparteien in einer Branche auffordern können, GAV-Verhandlungen zu führen. Dies entspräche einer abgeschwächten Form der in anderen Ländern bestehenden GAV-Verhandlungspflicht. Bei erfolglosen Verhandlungen käme ein behördlicher Schlichtungsmechanismus, als letzte Möglichkeit ein Normalarbeitsvertrag zum Tragen. Zudem wäre ein GAV-Anschluss als Zuschlagskriterium im öffentlichen Beschaffungswesen ultimativ festzulegen. Staatliche Finanzhilfen wären ausnahmslos (Landwirtschaft) zumindest an eine GAV-Verhandlungspflicht zu binden. Eine solche Pflicht soll auch für Bundes- und für konzessionierte Betriebe gelten.
Die neuste SGB-Publikation zu den GAV zeigt in einem faktenreichen Vergleich auf, dass die Schweiz das Potential der GAV bei weitem nicht ausgeschöpft hat und dass sie genau das jetzt tun müsste, wenn sie Lohndumping und damit letztlich Marginalisierung von Modernisierungsverlierern und so bedingten sozialen Unfrieden verhindern will.
Daniel Lampart/Daniel Kopp: GAV in der Schweiz: Probleme, Handlungsbedarf, Lösungen. SGB-Dossier 95, Sept. 2013.