Die Personenfreizügigkeit ist Teil der Bilateralen Verträge mit der EU. Die Schweiz ist auf eine enge und geregelte Zusammenarbeit mit der EU angewiesen. Darum braucht es die Bilateralen. Doch eine reine, unflankierte Öffnung des Schweizer Arbeitsmarktes würde Löhne und Arbeitsplätze gefährden. Die Schweizer Bevölkerung hat darum der Personenfreizügigkeit nur unter der Bedingung zugestimmt, dass die Löhne und Arbeitsbedingungen durch flankierende Massnahmen geschützt werden.
- Wenn die Arbeitgeber Personal aus dem Ausland zu den gleichen Bedingungen anstellen müssen wie die inländischen Arbeitskräfte, dann werden sie InländerInnen vorziehen. Denn die Rekrutierungskosten und die Unsicherheit (Vertrautheit mit der Arbeitsweise in der Schweiz u.a.) sind bei der Anstellung von InländerInnen geringer.
- Wenn Arbeitskräfte mit besonderen Qualifikationen, die hierzulande fehlen, in die Schweiz arbeiten kommen, können die inländischen Arbeitskräfte profitieren. Es kann Produktion im Land gehalten oder aufgebaut werden, was ohne die ausländischen Qualifikationen in diesem Mass nicht möglich wäre.
Damit die Schweizer Bevölkerung von den Vorteilen der Bilateralen Verträge profitieren kann und die negativen Auswirkungen verhindert werden, müssen die Schweizer Löhne und Arbeitsbedingungen geschützt sein.
Flankierende Massnahmen wirken – wenn sie von Bund und Kantonen angewendet werden
Das Schutzinstrument der flankierenden Massnahmen wurde in den letzten Jahren weitestgehend aufgebaut. Die flankierenden Massnahmen sind unbedingt notwendig. Die Berichte des Seco zeigen, dass bei den Kontrollen zahlreiche Arbeitgeber auffliegen, die versuchen, Löhne und Arbeitsbedingungen zu drücken. In Branchen mit verbindlichen Mindestlöhnen können diese Arbeitgeber gebüsst und gezwungen werden, die Löhne nachzuzahlen. Wiederholungstätern droht sogar eine Sperre. Mit diesen Massnahmen können die Arbeitnehmenden wirksam geschützt werden. Wenn ein Arbeitgeber weiss, dass er an die Kasse kommt, falls er zu wenig Lohn bezahlt, wird er sich hüten, gegen die Schweizer Arbeitsbedingungen zu verstossen.
Probleme ergeben sich jedoch in Branchen ohne verbindliche Mindestlöhne. Stossen die Kontrolleure auf einen Arbeitgeber, der zu tiefe Löhne bezahlt, können sie diesen Arbeitgeber zwar auffordern, die korrekten Löhne zu bezahlen. Doch wenn der sich weigert, können sie ihn nicht dazu zwingen. Das war 2009 bei fast 40 Prozent der fehlbaren Schweizer Arbeitgeber der Fall. Diese Branchen sind Dumping-gefährdet. Die Löhne in diesen Branchen können nur geschützt werden, indem Bund oder Kantone verbindliche Mindestlöhne einführen, wie das in den flankierenden Massnahmen vorgesehen ist. Doch trotz regelmässigen Lohnunterbietungen haben das bisher nur die Kantone Genf (Hauswirtschaft, Kosmetik), Tessin (Call Center, Kosmetik) und Wallis (industrielle Reinigung und Wartung) getan. Die anderen Kantone handeln nicht. Der Bund plant Mindestlöhne in der Hauswirtschaft (Hauspflege usw.).
Die Seco-Berichte zeigen klar auf, dass gehandelt werden muss. In der Reinigung und im Sicherheitsgewerbe gelten die Mindestlöhne nur für mittlere und grosse Firmen (Reinigung Deutschschweiz ab 6 Beschäftigten, Sicherheit ab 10 Beschäftigten), obwohl viele Lohnunterbietungen aufgedeckt wurden. Hier müssen auch für die kleinen Firmen Mindestlöhne gelten. Auch in der Hauswirtschaft droht ohne Mindestlöhne Dumping. In der Industrie (insb. Chemie und Maschinenindustrie) ist ein Druck auf die Einstiegslöhne feststellbar. Die mittleren Löhne von DaueraufenthalterInnen (-8.4 Prozent) und GrenzgängerInnen (-4.2 Prozent) in der Chemie sowie von DaueraufenthalterInnen in der Maschinenindustrie (-2.0 Prozent) sind von 2006 bis 2008 gesunken.[1]
Durchsetzungsprobleme bei Scheinselbständigen und Subunternehmern
Ein weiteres Problem sind Lücken im Netz der flankierenden Massnahmen. Unterbietungen von Mindestlöhnen in Normalarbeitsverträgen (NAV) werden nur auf Zivilklage hin geahndet. Es braucht eine gesetzliche Grundlage für eine amtliche Sanktionierung von Verstössen. Die Durchsetzung von Bussen im Ausland sowie gegen die häufiger im Schweizer Markt auftretenden Subunternehmer ist nach wie vor schwierig. Um diese Gefahr abzuwehren, sind mindestens Kautionen in Gesamtarbeitsverträgen notwendig, besser wäre aber eine strengere Solidarhaftung. Die Zunahme von Scheinselbständigen unterläuft den Schutz der Gesamtarbeitsverträge – insbesondere im Baunebengewerbe. Auch hier sind Gegenmassnahmen notwendig (bessere Identifikation, schärfere Sanktionen).
Anhaltende Schwierigkeiten mit Temporärfirmen
Der FlaM-Bericht zeigt: Die Temporärbüros verstossen nach wie vor häufiger gegen Mindestlohnbestimmungen als die übrigen Arbeitgeber. Sie gehören zu den grössten Profiteuren der Personenfreizügigkeit. Bis zur Einführung der Personenfreizügigkeit konnten sie nur Personen mit Aufenthaltsbewilligung an Schweizer Firmen verleihen. Mit der Personenfreizügigkeit kamen Grenzgänger, Kurzaufenthalter und Meldepflichtige (bis 90 Tage) dazu. Dementsprechend nahm die Zahl der Temporären in der Schweiz zu. Sollte der anstehende allgemeinverbindlich erklärte Gesamtarbeitsvertrag für Temporäre am Widerstand der Arbeitgeber scheitern, muss ein Normalarbeitsvertrag erlassen werden. Der Personalverleih von Arbeitskräften aus der EU in die Schweiz ist auf Personen mit Aufenthaltsbewilligung (B-Bewilligung) einzuschränken, wie das vor der Personenfreizügigkeit der Fall war.
[1] Gemäss Lohnstrukturerhebung 2006 und 2008.