Das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren und zu betätigen, gehört zu den grundlegenden Rechten, die einen demokratischen Rechtsstaat von Diktaturen und Unrechtsstaaten unterscheiden. Die Vereinigungsfreiheit, auch Koalitionsfreiheit genannt, ist eine Voraussetzung dafür, dass Arbeitsbedingungen und soziale Errungenschaften zum Ausgleich der wirtschaftlichen Macht der Arbeitgeber durch kollektive Regelungen abgesichert werden können. Sie ist heute auch in der Bundesverfassung ausdrücklich verankert. Konkretisiert werden die aus der Vereinigungsfreiheit fliessenden Rechte durch die von der Schweiz ratifizierte Konvention Nr. 98 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO oder ILO). Die Gewerkschaftsfreiheit gehört zusammen mit dem Verbot der Kinder- und Sklavenarbeit zu den sogenannten „core labour standards“, also zu den Kernarbeitsnormen, die unabhängig von der nationalen Gesetzgebung weltweit respektiert werden müssen. Diese fundamentalen sozialen Rechte sind Menschenrechte.
Die Schweiz gehört zu den ältesten Demokratien der Welt. Sie war Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber auch ein Pionierstaat bei der Entwicklung grundlegender Prinzipien des internationalen Arbeitsrechts. Das ist auch ein Grund dafür, dass sich der Sitz der ILO bis heute in Genf befindet. Leitend bei der Entwicklung des internationalen Arbeitsrechts war neben sozialen Erwägungen immer auch die Erkenntnis, dass dem wirtschaftlichen Wettbewerb über den nationalstaatlichen Rahmen hinaus Grenzen gesetzt werden müssen, um zu verhindern, dass aus der Verletzung elementarer Prinzipien sozialer Gerechtigkeit auch noch Profit geschlagen werden kann.
Umso bedenklicher ist es, dass die Schweiz als Pionierland des internationalen Arbeitsrechts es bis heute nicht fertig gebracht hat, den Schutz von Personalvertreterinnen und -vertretern so zu regeln, dass die Grundrechte und die Minimalstandards des internationalen Arbeitsrechts respektiert werden. War der fehlende Kündigungsschutz in den wirtschaftlichen Schönwetterzeiten der Hochkonjunktur und der Zeit der Vollbeschäftigung in der Praxis vielleicht noch nicht akut, so spitzte sich das Problem ab den neunziger Jahren ständig zu. Deshalb sah sich der Schweizerische Gewerkschaftsbund im Jahre 2003 erstmals in seiner Geschichte gezwungen, bei den Organen der ILO Klage einzureichen. Im November 2006 stellte die ILO unmissverständlich fest, dass der mangelhafte Schutz der Gewerkschafts- und Betriebskommissionsmitglieder vor antigewerkschaftlichen Kündigungen die Koalitionsfreiheit verletzt, und forderte die Schweiz bzw. den Bundesrat auf zu handeln.
Leider müssen wir heute, sechs Jahre später, feststellen, dass sich bei der Rechtslage nichts zum Positiven bewegt hat. In der Praxis hat sich die Problematik weiter zugespitzt, wenn wir die skandalösen Fälle der letzten Jahre betrachten. Zur desolaten Lage haben leider auch die Gerichte beigetragen, wenn, wie es das Bundesgericht im Leitfall des Tamedia-Betriebskommissionspräsidenten getan hat, inzwischen fast jede Begründung des Arbeitgebers die Entlassung eines Betriebskommissionsmitglieds rechtfertigen soll. Das Bundesgericht hat dabei festgestellt, dass der Bundesrat und der Gesetzgeber handeln müssten. Die offensive Nichtanwendung der ILO-Konventionen durch das oberste Gericht (wie aktuell auch wieder im Entscheid Chevrier, als die Verurteilung von Gewerkschaftern wegen der Verteilung von Informations-Flugblättern über einen Gesamtarbeitsvertrag auf einem Firmenparkplatz bestätigt wurde) steht in scharfem Kontrast zu seinem Umgang mit anderen internationalen Konventionen in jüngsten Entscheiden (etwa zur Kinderrechtskonvention oder zur CEDAW-Konvention). Auch die ILO-Konventionen gehören spätestens seit ihrer Ratifikation zu dem für die Schweiz – und ihre Behörden und Gerichte – massgebenden Recht.
Der Bundesrat seinerseits hat nach jahrelangem Hin und Her 2010 eine Vorlage in die Vernehmlassung geschickt, welche beim Schutz der Personalvertreter wenigstens einen bescheidenen, wenn auch noch ungenügenden, Fortschritt gebracht hätte. Seither ist das Dossier wieder blockiert, weil sich die Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände (und in ihrem Schlepptau die bürgerlichen Parteien) gegen jede Verbesserung sperren. Die Kantone und die übrigen Vernehmlassungsteilnehmer hatten zu den Vorschlägen des Bundesrates mehrheitlich positiv reagiert.
Angesichts der Blockade des Dossiers beim Bund hat sich der Schweizerische Gewerkschaftsbund entschlossen, die Klage bei der ILO zu reaktivieren, und mit Eingabe vom 19. September 2012 eine ganze Reihe von neuen Fällen thematisiert (darunter den erwähnten Leitfall Daniel Suter). Auf die Dauer wird es nicht nur den international stark vernetzten Schweizer Behörden, sondern auch den Organisationen der Arbeitgeber und den Wirtschaftsverbänden nicht einfach gleichgültig sein können, wenn die ILO als in diesem Bereich massgebende Weltorganisation feststellen muss, dass die Schweiz das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit verletzt.
Parallel dazu beginnt in der Schweiz mit dem neuen Schwarzbuch eine Kampagne, die aufzeigen soll, wie unhaltbar die gegenwärtige Lage ist. Wer die Sozialpartnerschaft als unverzichtbare Grundlage der erfolgreichen Schweizer Wirtschaft preist, der kann nicht gleichzeitig akzeptieren, dass Betriebskommissionsmitglieder, deren Aufgabe es ist, die Anliegen der Belegschaft zu vertreten, mir nichts dir nichts auf die Strasse gestellt werden können. Oder eine Firmenleitung den Betriebskommissionspräsidenten, also den Verhandlungspartner, mitten in Sozialplanverhandlungen entlässt. Und keine paritätische Verwaltung einer Pensionskasse kann mit der nötigen Unabhängigkeit funktionieren, wenn diejenigen, die sich für diese anspruchsvolle und verantwortungsvolle Aufgabe zur Verfügung stellen, keinen Kündigungsschutz geniessen, der diesen Namen verdient. Wer kollektive Anliegen und damit öffentliche Interessen vertritt, der muss entsprechend vor Willkür geschützt werden.