Die Sozialpartnerschaft in der Schweiz ist manchmal Stoff für beschönigende Sonntagspredigten. Wie und wo Sozialpartnerschaft in der Werktagwirklichkeit nicht funktioniert, zeigt ein neues SGB-Dossier.
„Das ausgezeichnete Funktionieren der Sozialpartnerschaft ist eine der wesentlichen Stärken des Schweizer Wirtschaftsstandorts […] Die Lohnbildung in der Schweiz basiert auf einer starken und verantwortungsvollen Sozialpartnerschaft. […] Das System, wonach die Mindestlohnfestsetzung den Sozialpartnern überlassen wird, wirkt sich ausgleichend auf die Lohnverteilung aus.“
Drei Zitate, die das Hohelied der schweizerischen Sozialpartnerschaft singen. Aus derselben Schrift wären mühelos 30 weitere Zitate mit gleichem Inhalt aufführbar. Welche Schrift? Eine Festschrift, die verklärt auf die Geschichte der Schweizer Sozialpartnerschaft zurückblickt? Nein, es handelt sich um die bundesrätliche Botschaft zur Mindestlohninitiative.
Der Bundesrat nennt zwar in der Botschaft (S.41) die Anzahl der einem GAV mit Mindestlohn Unterstellten (2012: 1 289 600 Personen). Dass damit nur gerade 36% aller Arbeitnehmenden einem GAV mit Mindestlohn unterstellt sind, muss man dann allerdings selbst ausrechnen. Das bedeutet also nichts anderes als: Bei 64% aller Arbeitnehmenden in der Schweiz wird die Lohnfestsetzung alleine den ‚Patrons‘ überlassen.
An diesen Fakten knüpft das SGB-Dossier Nr. 94 an. Es nennt – schön nach Branchen geordnet – wer sich denn arbeitgeberseits der Sozialpartnerschaft verweigert. Macht also eine Tour d’horizon durch eine patronale Landschaft, die ganz nach frühindustrieller Sitte durch den Herr im Haus Standpunkt geprägt ist.
In der Textilbranche etwa verweigern sich sowohl Calida wie auch Forster Rohner einem GAV. Bei den Verlegern weist Präsident Hanspeter Lebrument seit 2004 einen neuen GAV ab. In der Maschinenindustrie sind klingende Namen wie André Kudelski, von Roll, Stöcklin AG und Jacquet Technoloy aus dem GAV ausgetreten. In der Lebensmittelindustrie zeigen so renommierte Firmen wie Emmi, Kambly, HUG und eine Teil der Nestlé-Produktionsfirmen dem GAV-Gedanken die kalte Schulter. Die ASTAG und voran ihr Präsident Adrian Amstutz wollen die Bauchauffeure aus dem sogenannten Landesmantelvertrag (LMV), dem GAV für das Baugewerbe, heraushieven. Die Mehrzahl der Gartenbauer will nichts von einem GAV wissen. Im Detailhandel gilt dasselbe für Manor, Aldi, Denner, C&A, H&M, Spar, Dosenbach/Ochsner und viele weitere, mit dem Resultat, dass weit weniger als die Hälfte der 320‘000 Detailhandelsangestellten einem GAV unterstellt sind. Bekannte Banken (u.a. Vontobel, J.P. Morgan) wollen so wenig von einem GAV wissen wie der Schweizerische Bauernverband. Und im privaten Gesundheitswesen entlässt eine Forma wie Genolier Angestellte, die sich für den früher geltenden GAV einsetzen.
Auf all diese Beispiele und viele weitere weist das SGB-Dossier hin. Und zeigt damit auf, dass die bundesrätliche Darstellung der Sozialpartnerschaft in der Schweiz Schönfärberei zum Zweck des Einlullens ist.
Andreas Rieger/Ewald Ackermann: Halbierte Sozialpartnerschaft in der Schweiz. Bundesrätliche Mindestlohn-Darstellung ist mutwillig irreführend. SGB-Dossier 94, Sept. 2013.