Dunkle Schatten lasten zu Beginn dieses Jahres auf der Arbeitswelt. Viele Haushalte mussten im letzten Jahr bedeutende Einkommensverluste hinnehmen und starten daher aus einer schlechteren Situation ins neue Jahr als 2020. Die Unterbeschäftigung ist so hoch wie nie zuvor: Zählt man Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit zusammen, ergibt sich ein Rekordhoch der Unterbeschäftigung von 10 Prozent. Und die wirtschaftlichen Aussichten bleiben ungewiss, was bei vielen die berechtigte Angst vor Prekarität schürt, von den Jüngsten, die in den Arbeitsmarkt eintreten, bis hin zu Arbeitnehmenden am Ende ihrer Laufbahn.
Der Kampf der eidgenössischen und kantonalen Behörden gegen die Pandemie hat extrem ungerechte Folgen. Der Staat verbietet Aktivitäten, sobald sich die Situation verschlechtert, und bürdet somit einem Teil der Bevölkerung die wirtschaftlichen Kosten für Massnahmen auf, die im Namen der Gesundheit aller getroffen wurden. Dabei haben diese Personen keinerlei Fehler begangen. Im Gegenteil, sie haben sich oft sehr diszipliniert an die verschiedenen Anordnungen und zu treffenden Schutzmassnahmen gehalten. Der Staat hat es in der zweiten Welle verpasst, zu jeder Verschärfung einen wirksamen Schutz der Einkommen derjenigen zu garantieren, denen er verbietet zu arbeiten. Gesundheitsbehörden und Regierungen beschliessen zwar regelmässig – auf dringliche Empfehlung der Epidemiologen – tiefgreifende Einschränkungen. Zeitgleich ausreichende Massnahmen zur wirtschaftlichen und sozialen Abfederung vorzubereiten und umzusetzen haben sie aber jeweils versäumt.
Die Beteuerung «wir lassen euch nicht im Stich», welche die Bundespräsidentin im Namen des gesamten Bundesrats aussprach, wird somit in der Praxis nicht eingelöst.
Und wenn wir das Schlimmste verhindern konnten, dann dank harter Interventionen der Gewerkschaften und einiger Wirtschaftsorganisationen beim Bundesrat oder oft auch direkt im Parlament. Es brauchte unseren unermüdlichen Einsatz um beispielsweise zu erreichen, dass die Kurzarbeit auf befristete und atypische Arbeitsverhältnisse ausgeweitet wurde. Um Entschädigungen für Eltern einzuführen, die wegen Betreuungspflichte aufgrund einer Schulschliessung oder Quarantäne einer Klasse nicht zur Arbeit gehen konnten. Und ganz besonders um zu erreichen, dass die niedrigsten Einkommen bei Kurzarbeit endlich zu 100 Prozent entschädigt werden. Nichts davon war von vornherein als Begleitmassnahme geplant.
Heute müssen sich Hunderttausende mit den Mühen der Schweizer Bürokratie herumschlagen und werden ohne Rücksicht auf die Besonderheiten ihrer Situation von einer Abteilung zur nächsten geschickt. Was schliesslich die Unterstützungsmassnahmen betrifft, welche das Parlament mit grosser Mühe doch noch beschlossen hat, gibt es unfaire Schwelleneffekte wie z. B. der zu hohen und willkürlichen Grenze von 40 Prozent Umsatzeinbusse, damit verfehlen diese oft ihr Ziel.
Schliesslich warten die Männer und Frauen, die im Gesundheitswesen arbeiten und die alles gegeben haben, um die lebensnotwendige Versorgung zu gewährleisten, immer noch auf eine angemessene Vergütung für ihren ausserordentlichen Einsatz. Es hat sich gezeigt, dass die Organisation des Gesundheitssystems als Markt mit ihrem Anreiz maximaler Rentabilität für die Anbieter ungeeignet ist, um aussergewöhnlicher Ereignisse bewältigen zu können: Diese Lektion müssen wir in Erinnerung behalten, wenn es in Zukunft um die Finanzierung der Pflege geht. Aber jetzt sind es die Mitarbeitenden, welche die Hauptlast dieser Unzulänglichkeiten tragen mussten, und für dieses Engagement drängt sich eine Anerkennung auf. Die Tatsache, dass Mitarbeitende in Alters- und Pflegeheimen nicht immer nicht immer in Quarantäne gehen können, wenn es nötig wäre, ist schlicht inakzeptabel. Dieses Jahr braucht es personelle Verstärkung in Heimen und Krankenhäusern. Der Bundesrat und die Kantone müssen sie anordnen und finanzieren. Mit dieser Verstärkung können Teams entlastet und unser Gesundheitssystem widerstandsfähiger gemacht werden. Das kann helfen zu vermeiden, dass in der Hektik überrissene Massnahmen getroffen werden, weil sie nicht ausreichend abgestimmt und evaluiert wurden.
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Wir beginnen das Jahr also in einer katastrophalen Situation, was den nationalen Zusammenhalt betrifft. Die Branchen, die in dieser Krise geopfert werden, die Arbeiterinnen und Arbeiter, die davon betroffen sind, ob Angestellte oder Selbstständige, und ihre Familien haben guten Grund, sich vom Land und seinen Behörden im Stich gelassen zu fühlen. Es geht insbesondere um den Tourismus, das Hotel- und Gastgewerbe und um die Bereiche Kultur, Freizeit, Sport, Reisen und Veranstaltungen. Hunderttausende von Menschen arbeiten in diesen Branchen. Zusammen mit ihren Familien sind es zweifellos mehr als eine Million Menschen, die sich in prekären Verhältnissen befinden. Und auf der anderen Seite müssen sich diejenigen, die als systemrelevant entdeckt wurden, vorerst damit begnügen, noch härter zu arbeiten, ohne reale Aussicht auf dauerhafte Lohnverbesserungen.
Aber diese Situation ist auch eine Katastrophe für unseren sozialen Zusammenhalt. Die Krise wird zu einem massiven Anstieg der Ungleichheit führen. Die Berufe, die von brutalem Arbeitsplatzabbau und Kurzarbeit betroffen sind, sind die am schlechtest bezahlten. Umgekehrt sind die höchsten Löhne deutlich weniger betroffen, und die Kapitalmärkte samt den von ihnen generierten Einkommen präsentieren sich in besserer Verfassung als je zuvor. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass eine Pandemie am Ende in eine weiter geöffnete Lohn- und Vermögensschere mündet.
Damit sich dieses Gefühl des Verlassenseins und des Verrats nicht auf Dauer festsetzt, kann gehandelt werden, sofern der Bundesrat der Bürokratie diesmal keinen Raum lässt und sich als fähig erweist, dafür zu sorgen, den Betroffenen schnell eine konkrete Entschädigung zukommen zu lassen. Die Unterstützung mittels der sogenannten Härtefallregelung muss in den nächsten Wochen umgesetzt werden, und der Bundesrat muss alle rechtlichen Spielräume nutzen, um sie so unkompliziert zugänglich wie möglich zu gestalten. Die Zerstörung von Arbeitsplätzen so weit wie möglich zu verhindern, ist eine Anstrengung, der man sich zu Beginn des Jahres mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln widmen sollte, um soziale Katastrophen bei Jugendlichen und Arbeitnehmern am Ende ihres Berufslebens zu vermeiden, aber auch um den Aufschwung zu beschleunigen, sobald die Pandemie unter Kontrolle gebracht wurde.
Ebenso erwarten wir, dass die 100prozentige Lohngarantie bei Kurzarbeit schon mit den Januar-Ausgleichszahlungen wirksam wird. Und dass die geplanten Hilfen für den Kultur- und Veranstaltungsbereich endlich ihre Empfänger erreichen, und zwar in allen Kantonen. Sobald diese erste Hilfe gewährt wurde, muss der Bundesrat dem Kultursektor eine ernsthafte und stabile Perspektive für die Wiederaufnahme seiner Tätigkeit geben.
Schliesslich haben, egal was getan wird, weit über eine Million Arbeitnehmende letztes Jahr 20 Prozent ihres Einkommens für einen Monat oder mehr verloren. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Mitarbeitende am unteren Ende der Lohnskala. Im Sommer 2020 wurde die durchschnittliche Auswirkung dieser Verluste auf die gesamte Bevölkerung unseres Landes geschätzt. Wir wissen daher, wenn wir uns wieder auf die tatsächlich Betroffenen konzentrieren, dass sich die Verluste auf mehrere tausend Franken pro betroffenen Haushalt belaufen. Diese Verluste führen dazu, dass diese Haushalte noch stärker dem Risiko ausgesetzt sind, unvorhergesehene Ausgaben nicht bewältigen zu können, insbesondere Gesundheitskosten.
Auf der anderen Seite verfügt jeder Schweizer Vier-Personen-Haushalt über ein Sparbuch mit rund 2’000 Franken, das bei seiner Krankenkasse hinterlegt ist. Die Überschussreserven aus dem KVG belaufen sich nämlich auf rund 5 Milliarden Franken, was gut 500 Franken pro Person entspricht.
Es gibt keinen besseren Zeitpunkt, um dieses Geld an die Versicherten zurückzuverteilen. Dies würde einerseits einen Teil des Kaufkraftverlustes der von der Krise betroffenen Haushalte ausgleichen. Andererseits wissen wir heute, dass einer der Zwecke dieser Reserven (die Finanzierung des Gesundheitssystems im Falle einer Pandemie) hinfällig ist: Der Pandemie-Fall ist eingetroffen und alles deutet darauf hin, dass er nicht den massiven Abbau der Reserven erfordert hat, wie ihn die Krankenkassen befürchtet haben.
Diese Umverteilung ist also möglich und notwendig. Es gibt nur einen Weg, um sicherzustellen, dass sie unter fairen und sicheren Bedingungen durchgeführt wird: eine Zurückzahlung an alle EinwohnerInnen dieses Landes, Erwachsene und Kinder, mit dem gleichen Frankenbetrag pro Kopf. Dies ist der einzige Weg, um fair zu sein und Mitnahmeeffekte oder Ungerechtigkeiten zu vermeiden, die eine Umverteilung gemäss der Situation der einzelnen Krankenkassen unweigerlich verursachen würde. Bei der ersten Lesung des Covid-19-Gesetzes im Frühjahr haben wir eine komplette entsprechende Gesetzesänderung vorgelegt. Dieser Vorschlag bleibt auf dem Tisch.
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Wie ich schon sagte, hat die Krise die Arbeitswelt sehr ungerecht getroffen. Die tiefsten Einkommen, die prekärsten Arbeitnehmenden, die am stärksten gefährdeten Menschen haben einen hohen Preis bezahlt. Wir müssen nicht nur verhindern, dass sich diese Ungerechtigkeit in diesem Jahr noch verschlimmert, sondern wir müssen diesen Trend langfristig umkehren.
Das stärkt uns in den Kämpfen, die wir im Jahr 2021 führen werden und die über die Folgen der Pandemie hinausgehen. So steht zum Beispiel das Thema Altersvorsorge an einem Scheideweg. Das Parlament droht mit einer Verschlechterung der AHV-Leistungen, insbesondere für Frauen. Die Renten der 2. Säule werden im anhaltenden Tiefzins-Umfeld ausgehöhlt: Unser System leidet unter seiner Abhängigkeit von den Finanzmärkten. Und die Rechten im Parlament wollen mit der dritten Säule eine private Altersvorsorge stärken, die sich nur an die höchsten Einkommen richtet.
Angesichts dessen werden wir in die Offensive gehen. In den kommenden Monaten werden wir unsere Initiative für eine 13. AHV-Rente zu einem erfolgreichen Abschluss bringen. Und wir werden den Sozialpartner-Kompromiss zum BVG verteidigen, der hilft, die wichtigsten Probleme der 2. Säule zu lösen.
Ganz allgemein wollen wir, dass das Land aus dieser Prüfung mit gestärkter Solidarität hervorgeht und sich das Vertrauen in die Zukunft für unsere Jugend bewahrt. Wir werden von den Behörden weiterhin verlangen, alle eingegangenen Verpflichtungen in diesem Sinne weiterzuführen und in ihren Entscheidungen Ausgewogenheit und Gerechtigkeit zu beweisen. Aber wir werden auch, und dies sobald es die Pandemie-Situation erlaubt, mit aller nötigen Kraft auf die Strasse zurückkehren – für Arbeit und für Löhne. Denn es ist inakzeptabel, dass die Arbeitnehmenden für eine Krise bezahlen sollen, für die sie in keiner Weise verantwortlich sind.