Entwicklung, Rückschläge, Renaissance

  • Löhne und Vertragspolitik
Artikel
Verfasst durch Ewald Ackermann

Die Gesamtarbeitsverträge (GAV) regeln einen grossen Teil der Arbeitswelt – und damit des täglichen Lebens. Am 24. November beschäftigen sich Sozialpartner und Bundesrat anhand des 100jährigen Jubiläums der GAV-Verankerung im Obligationenrecht mit der Frage, wohin die GAV entwickelt werden können. Wir stellen hier in aller Kürze die Frage, woher sie kommen.

1877 führt die Schweiz nach heftiger Auseinandersetzung das Fabrikgesetz ein. Es bringt den 11-Stunden-Tag, ein Verbot der Kinderarbeit (unter 14 Jahren) und eine weitgehende Einschränkung der Nachtarbeit. Zu diesem Zeitpunkt sind kaum eine Handvoll Gesamtarbeitsverträge (GAV) verwirklicht. Wer die Ausbeutung von Arbeitnehmenden bekämpft, setzt primär auf staatliches Arbeitsrecht – und Streik. 

Das ist auch 1911 nicht wesentlich anders, als der GAV im Schweizerischen Obligationenrecht verankert wird. Der damalige Bundesrat erhofft sich von der Förderung der GAV eine Milderung des Klassenkampfs. Denn die Schweiz des frühen 20. Jahrhunderts ist nicht – wie es ein späterer Mythos verklärt – das Land der wohltemperierten Interessenausgleiche; es wird oft gestreikt. Ende der 20er Jahre sind denn auch klar weniger als 10 % der unterstellbaren[1] Arbeitnehmer/innen einem GAV unterstellt. Dies beginnt sich erst 10 Jahre später zu ändern. Es kommt zu einer ersten Welle von GAV-Abschlüssen. Die bedeutendsten davon sind der Landesmantelvertrag (LMV) des Bauhauptgewerbes, der Uhren-GAV und das Friedensabkommen in der Maschinenindustrie. Bei Kriegsausbruch ist rund ein Viertel aller Arbeitsverhältnisse von einem GAV bestimmt. Eine zweite Welle von Abschlüssen ab 1944 (neu Chemie-, Nahrungsmittel-, Textil-GAV) führt dazu, dass 1950 rund 50 % aller Arbeitnehmer einem GAV unterstehen.

Vom Verteilinstrument zum „Auslaufmodell“

Dieser Grad an Unterstellung ändert bis anfangs 90er Jahre nicht wesentlich. Der GAV wird vier Jahrzehnte lang als Instrument einer einigermassen gerechten Verteilung gemeinsam erarbeiteten Reichtums angewandt. Die Löhne, so sie im GAV geregelt sind, klettern aufwärts, die Ferien steigen auf 4 bis 6 oder 7 Wochen (etwa für Ältere), die wöchentlichen Arbeitszeiten fallen auf 41 bis 40 Stunden. Gleichzeitig erschliessen die GAV neue Inhalte wie Weiterbildung, Mitwirkung, Gesundheitsschutz und Gleichstellung. 

In der Krise der 90er Jahre greifen die Neoliberalen den GAV frontal an. Arbeitgeber-Präsident Guido Richterich bezeichnet ihn als „Auslaufmodell“. Gleichzeitig werden die GAV inhaltlich ausgedünnt. Der automatische Teuerungsausgleich wird eliminiert, einige GAV verlegen die Lohnverhandlungen auf betriebliche Ebene (Banken, Basler Chemie, graphische Industrie). So gewinnt auch die individuelle Lohnverteilung an Bedeutung und verursacht wesentlich die zunehmende Lohnspreizung. Die anhaltende Tertiarisierung der Arbeitswelt führt zudem dazu, dass der GAV, der vor allem in Handwerk und Industrie verbreitet ist, einen immer kleineren Teil der Arbeitsverhältnisse abdeckt. 1996 ist der Tiefpunkt erreicht: Nur mehr 1 269 000 Arbeitnehmer/innen sind einem GAV unterstellt. Der Abdeckungsgrad fällt unter 50 %.

Renaissance

2009 zählt das BA für Statistik 614 GAV, denen insgesamt 1,7 Mio Arbeitnehmer/innen unterstellt sind. Der Abdeckungsgrad liegt damit wieder über 50 %. Der Trend der 90er Jahre ist also gekehrt worden. Was sind die Gründe für die Renaissance des GAV? 

  1. Nach einer weitgehenden Abschaffung des Beamtenstatus bei Bund und Kantonen werden die Arbeitsverhältnisse bei Post, SBB und Swisscom, aber auch in Bereichen des Gesundheitswesens, neu durch GAV geregelt. 
  2. In Bereichen des tertiären Sektors können einige neue GAV abgeschlossen werden (Reinigung, private Sicherheit, kleinere regionale GAV im Detailhandel).
  3. Die politische Konstellation rund um die Personenfreizügigkeit mit der EU begünstigt diese Renaissance: Wer verschlechterte Arbeitsbedingungen verhindern will, muss auf einen Referenzrahmen abstellen, den GAV und insbesondere GAV-geregelte Mindestlöhne geradezu ideal abgeben. Auf diesem Hintergrund, aber auch gepusht durch gewerkschaftliche Kampagnen, steigert sich das normative Gewicht vertraglicher Mindestlöhne. Es kommt zu einer Zunahme von allgemein verbindlich erklärten GAV.

Dass die Entwicklung vorwärts geht, wenn auch nicht schnurgerade sondern gewunden, zeigt der beabsichtigte Temporär-GAV, dessen Inkraftsetzung immer wieder torpediert wurde. Dass GAV als Ausdruck einer Konsens-Strategie in der Aushandlung selbst auch zu Konflikten Anlass geben können, zeigt sich aktuell in der Erneuerung des LMV-Bau. Genau in diesem Gewerbe ist 2003 – auch nach einem heftigen Konflikt – der frühzeitige Altersrücktritt vereinbart worden, der seinerseits zum Modell für viele weitere solche GAV-Regelungen wird, die jeweils allgemeinverbindlich erklärt worden sind. Neu sind zudem in den letzten Jahren zunehmend auch Fragen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie in die GAV aufgenommen worden.

In der quantitativen Abdeckung zeigt sich das Modell des GAV somit gegenwärtig als sehr robust, in den Inhalten als innnovationstauglich. 

Tabelle 1: GAV-Abdeckung (Schätzung Rieger 2009)[2] 

 

Gering (< 30%)Mittel (30 bis 60%)Hoch (> 60%)
Sektoren

primärer

tertiärer

sekundärer

Ausbildung

höhere

Ungelernte, Berufslehre

Löhne

> 6000.-

4500.- bis 6000.-

< 4500.-

Tabelle 2: die 5 grössten GAV in der Schweiz

 

Branche/Unternehmen

Anzahl Unterstellte[3]

Gastgewerbe

206‘000
Maschinenindustrie110‘000

Bauhauptgewerbe

80‘000
Banken80‘000
Migros

65‘000


[1] Die GAV-Abdeckung orientiert sich hier und im Folgenden an der Zahl der Unterstellbaren und nicht sämtlicher Erwerbstätigen. Insbesondere Selbständige und Kaderangehörige sind somit nicht berücksichtigt.

[2] Andreas Rieger: Entwicklung und Bedeutung der GAV in der Schweiz. S. 112. In: Handbuch zum kollektiven Arbeitsrecht, Basel 2009.

[3] Quelle: ebenda, S.113. Zahlen 2006. 

Zuständig beim SGB

Daniel Lampart

Sekretariatsleiter und Chefökonom

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Daniel Lampart
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