Die gewerkschaftliche Lohnpolitik ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre hat viele Erfolge vorzuweisen. Dank den Mindestlohnkampagnen und den Fortschritten bei den Gesamtarbeitsverträgen sind die unteren Löhne deutlich gestiegen – im Unterschied zu vielen anderen Ländern in Europa. Und trotz Finanzkrise und Frankenüberbewertung erhöhten sich die Löhne insgesamt. Die von Arbeitgeberkreisen angedrohten Lohnsenkungen konnten die Gewerkschaften verhindern. Negativ ist hingegen, dass die oberen und obersten Löhne deutlich stärker stiegen. Die Lohnschere ist auch in der Schweiz aufgegangen. Heute gibt es in der Schweiz rund 14‘000 Personen mit einem Lohn von einer halben Million Franken und mehr – gegenüber rund 3000 Mitte der 1990er Jahre.
Mitarbeitende mit langer Betriebszugehörigkeit erhielten in den Krisenjahren jedoch weit weniger Lohnerhöhungen. Auch in Gesprächen mit Personalkommissionen in Branchen wie der Maschinenindustrie kommt klar zum Ausdruck, dass die Lohnstruktur in zahlreichen Betrieben mittlerweile aus dem Lot ist. Dies rächt sich später auch bei der Pensionskassenrente – vor allem bei den Ü55. Wenn der Lohn stagniert, stagnieren auch die Beiträge. Dazu kommt die tiefere Verzinsung der Altersguthaben in den letzten Jahren. Im Rentenalter sind vor allem sie die Leidtragenden der stark gesunkenen Umwandlungssätze.
Die Frauenlöhne haben gegenüber den Männerlöhnen in den letzten Jahren etwas aufgeholt. Auch weil auf Druck der Gewerkschaften in den Branchen und Betrieben sowie beim Bund Gegenmassnahmen ergriffen wurden. Der Lohnunterschied ist mit rund 17 Prozent aber nach wie vor beträchtlich.
Lohnpolitisch ein Fehlstart war der 2016 einsetzende Wirtschaftsaufschwung. Trotz höheren Gewinnen und vermehrtem Arbeitskräftemangel schalteten gewisse Arbeitgeber auf stur. Die sehr bescheidenen Nominallohnerhöhungen wurden von der Teuerung mehr als weggefressen. Die Reallöhne sinken leicht.
Die Schweizer Steuer- und Abgabenpolitik in den letzten 15 bis 20 Jahren war zugunsten der Oberschicht. Haushalte mit tiefen und mittleren Einkommen wurden hingegen deutlich stärker zur Kasse gebeten. Die bedeutenden Lohnfortschritte wurden durch diese unsoziale Politik zu einem beträchtlichen Teil zunichte gemacht.
Die obersten Einkommen profitierten vor allem von den Steuersenkungen in nahezu allen Kantonen. Die übrigen Haushalte leiden dagegen immer mehr unter den Krankenkassenprämien. Die Prämien haben sich seit 1997 mehr als verdoppelt. Die Prämienverbilligungen, die zur Abfederung der Prämienlast eingeführt wurden, stiegen hingegen um nur rund ein Drittel. Seit dem Jahr 2000 hat sich die Prämienbelastung für Haushalte mit tiefen und mittleren Einkommen teilweise mehr als verdoppelt! Diese Entwicklung hat die Progression des Schweizer Steuer- und Abgabesystems zu einem beträchtlichen Teil gebrochen. Die Belastung einer alleinstehenden Person durch Steuern und Abgaben wird mehr und mehr proportional statt progressiv.
Nun braucht es eine Wende in der Lohn-, Einkommens- und Abgabenpolitik. Es braucht spürbare generelle Lohnerhöhungen, es braucht wirksame Massnahmen für bessere Frauenlöhne sowie mehr gute GAV mit Mindestlöhnen. Die Kantone müssen die Steuersenkungen für hohe Einkommen korrigieren. Und Bund und Kantone müssen die Prämienverbilligungen bei den Krankenkassenprämien erhöhen. Damit niemand mehr als 10 Prozent des Einkommens für Krankenkassenprämien aufwenden muss.