Liebe Kolleginnen und Kollegen
Ich freue mich sehr, Euch endlich physisch wiederzusehen!
Unser Weg aus einer traurigen Zeit mit unzähligen Kranken und Toten ist lang und schwierig. Der Druck auf die Heime, Spitäler und die ganze medizinische Grundversorgung war enorm. Aber es gab auch Arbeitslosigkeit, Stellenabbau und sinkende Einkommen. 560'000 Menschen wurden arbeitslos oder sind in Kurzarbeit und auf die Arbeitslosenversicherung angewiesen, um zu überleben. Vor der Krise war diese Zahl fünf Mal tiefer! Seit Monaten müssen hunderttausende Familien mit 20 Prozent weniger Lohn auskommen, weil es auf Flughäfen, in der Gastronomie oder im Tourismus an Arbeit fehlt.
Wie hoch werden die Schäden dieser Krise sein? Wie werden die Jungen in der Arbeitswelt Fuss fassen? Wie werden all die arbeitslos gewordenen älteren Arbeitnehmenden wieder eine Stelle finden?
Die Angst vor der Zukunft wächst. Zur Klimakrise kommt diese Gesundheitskrise hinzu. Auch die geopolitischen Risiken nehmen laufend zu.
Was ist angesichts dieser wachsenden Ängste und Sorgen konkret zu tun?
Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Aber klar ist zumindest eines: Auch während einer Pandemie geht der Kampf weiter. Wer Interessen und Gewinne zu verteidigen hat, begibt sich nicht in Quarantäne. Die Medizin hat leider keinen Impfstoff gegen die zunehmende soziale Ungerechtigkeit zur Verfügung. Wir, die Gewerkschaftsbewegung, die Kräfte des sozialen Fortschritts, bilden den Impfstoff. Wenn wir aufhören zu kämpfen, werden Ungerechtigkeit und Ungleichheit explosionsartig zunehmen!
Laut IAO gingen 2020 weltweit mehr als 255 Millionen Arbeitsplätze verloren. Hunderte Millionen Kinder gehen nicht mehr zur Schule, bei der Einschulung von Mädchen ist ein massiver Rückschritt zu verzeichnen. Dadurch werden jahrzehntelange Bemühungen im Kampf gegen Kinderehen und Zwangsheirat zunichte gemacht. Das Einkommensgefälle nimmt auf der ganzen Welt rapide zu – auch in der Schweiz. Profite, Börsengewinne, Spekulation, Boni und Dividendenexzesse haben hingegen keine Pause eingelegt.
Während der Krise hat der SGB mit grossem Einsatz bei den Behörden interveniert, um den Sozialabbau zu begrenzen, den diese Krise verursacht hat. Wir legten einen Plan vor – und er wurde weitgehend befolgt –, der die Ausweitung und Lockerung der Regeln für Kurzarbeit und die Schaffung einer neuen Erwerbsausfallversicherung für Selbstständige vorsah. So konnte Menschen mit einem temporären oder befristeten Arbeitsvertrag geholfen werden. Zudem haben wir nach monatelangen erfolglosen Versuchen im Dezember endlich eine kleine Verbesserung bei der Kurzarbeitsentschädigung für tiefe Einkommen erreicht.
Wir haben dafür gekämpft, dass die sogenannte «Härtefalllösung» dahingehend geändert wurde, dass geschlossene Betriebe entschädigt werden. Gemeinsam mit den Betroffenen haben wir uns auch für eine stärkere Unterstützung des Kultursektors eingesetzt.
Unsere Gewerkschaften, welche die Arbeitnehmenden in Schulen, Kitas und im Gesundheitswesen vertreten, handelten verantwortungsbewusst und forderten die nötigen Schutzmassnahmen und Handhaben. Gleichzeitig erkannten sie jedoch, dass die Aufrechterhaltung des Service public zum Wohl der Kinder und der Patientinnen und Patienten sichergestellt werden muss. Auf diese Einstellung und dieses gewerkschaftliche Handeln können wir stolz sein.
Wir haben alles in unserer Macht Stehende getan, um den Schaden zu begrenzen und unserem Land in dieser schweren Zeit beizustehen. Heute müssen wir jedoch feststellen, dass es breite Mobilisierungen braucht, um weiter zu gehen.
Heute ist es der Staat, der begreifen muss, dass er mit der Beseitigung der Schäden beginnen muss, die diese Krise angerichtet hat. Seine Verantwortung beschränkt sich nicht auf die blosse Bekämpfung der Verbreitung eines Virus und seiner Varianten. Es wird von Kaufkraftverlust gesprochen. Das gibt die Realität jedoch nur stark vereinfacht wieder. Für die meisten Menschen bedeutet Kaufkraft schlicht und einfach, dass sie normal leben und ihren Kindern ein Minimum an Sicherheit und Freizeitaktivitäten bieten können – kurz, ein gutes Leben mit ein bisschen Freude und Leichtigkeit.
Die Mittel, die es für dieses gute Leben braucht, müssen der Bevölkerung zur Verfügung gestellt werden. Diese Mittel sind vorhanden. Die Krankenkassen horten einen Überschuss von fünf bis sechs Milliarden Franken. Während der Pandemie hat sich dieser Überschuss sogar weiter erhöht. Er muss endlich den Menschen zurückgegeben werden, unkompliziert und schnell. So wäre es beispielsweise möglich – und zwar ohne die öffentliche Hand zu verschulden –, einer vierköpfigen Familie 2000 Franken zurückzuzahlen.
Wir müssen unseren Jungen die Garantie bieten, dass wir sie nicht im Stich lassen. Nach den Opfern, die sie erbracht haben, muss ihnen die Sicherheit gegeben werden, eine Erstausbildung oder eine erste Arbeitsstelle zu finden.
Wir haben erreicht, dass ausgesteuerte ältere Arbeitslose ab ihrem 60. Lebensjahr Anspruch auf eine Überbrückungsrente haben. Im Juli tritt diese neue Sozialversicherung in Kraft. Dieser Anspruch muss rasch und unbürokratisch anerkannt, die nötigen Mittel müssen bereitgestellt werden. Die überzogenen Zugangsbeschränkungen, die das Parlament und der Bundesrat festgelegt haben, müssen rasch korrigiert werden.
Die betroffenen Sektoren müssen angekurbelt und nachhaltige Strategien insbesondere für die Bereiche Tourismus, Gastronomie, Kultur und Luftverkehr entwickelt werden.
Zudem müssen wir endlich die notwendigen Mittel bereitstellen, um unsere medizinische Grundversorgung zu stärken. Profitlogik und der Wettbewerb sind im Gesundheitswesen ruinös und führen dazu, dass wir einer Gesundheitskrise mit viel Schwierigkeiten gegenüberstehen. Heute müssen wir feststellen, dass alles «gerade so» funktioniert und ungenügende Kapazitätsreserven vorhanden sind. Die ohnehin schon erschöpften und exponierten Teams müssen noch mehr leisten. Andererseits werden mit bestimmten ausgewählten medizinischen Eingriffen und technischen Geräten weiterhin überhöhte Gewinne und exzessive Vergütungen generiert. Die Grundversorgung muss gestärkt und aufgewertet werden und zwar bei den Löhnen, den Arbeitsbedingungen, dem Personalbestand und der Infrastruktur.
Dies sind nur einige Beispiele dafür, was der Staat auf nationaler und kantonaler Ebene in den kommenden Monaten unternehmen muss. Die soziale Wende ist das Gebot der Stunde. Sogar die amerikanischen Eliten haben dies verstanden. Man darf die arbeitende und produzierende Bevölkerung nicht weiter in die soziale Not treiben. Man darf den Wettbewerb aller gegen alle nicht mehr unbegrenzt forcieren.
Wir werden kein Jota zurückweichen es nicht dulden, dass die liberale Logik zum x-ten Mal die Oberhand gewinnt und immer wieder versucht, unseren bescheidenen Lohnschutz und unsere öffentlichen Dienstleistungen zu schwächen. Den Neoliberalen aller Länder und aller Parteien sagen wir Folgendes: Für uns gibt es keinen Unterschied zwischen einer von aussen oder einer von innen auferlegten neoliberalen Radikalkur. Wir werden beides bekämpfen.
Wir werden auch die Provokation gegenüber dem Frauenstreik, der grössten sozialen Bewegung in unserem Land seit einem Jahrhundert, stark bekämpfen. Jene inakzeptable Provokation, welche die Erhöhung des Frauenrentenalters darstellt! Diesen Rückschritt wollen wir nicht. In einem Land, in dem die Nationalbank innerhalb von drei Monaten 38 Milliarden Gewinn macht, können wir bessere Renten für die Frauen, sowie eine 13. AHV-Rente finanzieren!
Was wir heute brauchen, ist eine soziale Wende. Die Zeit der Angst ist vorbei. Jetzt ist die Zeit der Hoffnung, der Präsenz und des Kampfes gekommen!
Ich danke Euch, dass Ihr gekommen seid und den gewerkschaftlichen Geist der Solidarität und des Kampfes bewahrt habt. Er wird den Unterschied zwischen einer nicht lebenswerten und einer gerechten und nachhaltigen Welt ausmachen!
Ich danke Euch für Eure Aufmerksamkeit. Es lebe der 1. Mai!