I
In meiner Jugendzeit hörte ich meine Mutter, die Blumen liebte, manchmal sagen, man sollte im Leben viel mehr die Blumen sprechen lassen. Aber früher habe ich nie verstanden, warum Blumen sprechen können sollten.
Jahre später erzählte ich dann meinen Eltern einmal vom gewerkschaftlichen Literaturpreis „Arbeit und Alltag“, der viele Menschen zur Sprache angestiftet habe. Beim Abschied damals streckte mir mein Vater seine beiden Hände entgegen und bemerkte nur, die hätten ein Leben lang gearbetet und könnten auch manches erzählen. Als Arbeiter in fremden Diensten oder für die Familie und hin und wieder als Faust im Sack. Doch dann fügte er mit verschmitztem Lächern hinzu: - Ein Schriftsteller, der müsste doch wenigstens das können. – Was können, fragte ich. – Eben das, gab mein Vater zur Antwort: Die Hände zum Erzählen zu bewegen und die Blumen zum Sprechen zu bringen.
II
In Frankreich ist es am 1. Mai, an der Fête du Travail, Brauch, sich als Glücksbringer einen Strauss Maiglöckchen zu schenken. Maiglöckchen als Symbol des Frühlings und als Zeichen des Aufbruchs, der Lebensfreude und einer besseren Zukunft.
In vielen anderen Ländern wird eine Mai Nelke ans Kleid gesteckt und an den 1. Mai-Umzügen mitgetragen. So wurde diese Blume rund um den Erdball zu einem Symbol des Maifeiertages und des internationalen Tages der Arbeit.
Am 1. Mai trägt man auf der ganzen Welt die Farbe Rot. Organisierte Arbeiterinnen und Arbeiter heften sich rote Maibändel an Jacke, Pullover oder Hemd und tragen Jahr für Jahr auf roten Bändern an den Umzügen die Hauptbotschaften mit. Einst waren es Forderungen nach einem Achtstundentag in den Fabriken und nach einer minimalen Absicherung. Und heute ist der Staat auch ein Sozialstaat, also eine Errungenschaft der fortschrittlichen Parteien, Gewerkschaften und Bewegungen, die es zu verteidigen gilt.
III
Wenn die Hände des Vater erzählen möchten und die Blumen der Mutter sprechen sollten, so müsste dies – das ist gewiss – ja erst recht eine Mai Nelke können. Ich sehe sie auf einem Bild vor mir: Ein wenig stilisiert oder holzschnittartig gezeichnet, blühend dargestellt in der Farbe des 1. Mai und von einer Hand gehalten. Und weil die Hand die zarte, frische und unverwüstliche Nelkenblume hält, ist sie auch eine Faust.
Da! auf einmal beginnt mein Bild zu sprechen: Mai Nelke und Hand zählen dem Bildbetrachter die lange und bewegte Geschichte unserer 1. Mai-Bewegung. Doch nicht nur Erlebtes und Vergangenes wissen sie zu berichten, so ein Bild kann sehr wohl auch Fragen stellen. Nach unserer Zukunft, nach der Zukunft der Arbeiter- und der Gewerkschaftsbewegung auf der ganzen Welt ebenso wie nach der Zukunft unseres Planeten.
Klar und deutlich etwa, wie es meine Eltern einmal gewünscht haben, höre ich jetzt vom Bild der Mai Nelke auch eine unbekannte Geschichte, die wir in der Schule nie gehört haben und die sich am 1. Mai 1886 auf dem Haymarket in Chicago zugetragen hat. Als Ursprung und Beginn des internationalen Maifeiertages und wie es in den USA damals zu einem mehrtägigen Streik und zu gewalttätigen Auseinandersetzung mit Toten zwischen demonstrierenden Arbeitern und der Polizei kam.
IV
Auch dieses Jahr wird am 1. Mai wieder die Farbe Rot getragen. Rote Transparente mit dem Slogan „Arbeit, Lohn und Rente – statt Profit und Gier!“ / „Du boulot, des salaires et des rentes!“ / „Lavoro, salario e rendite per tutti!“ In Frankreich wird man an der Fête du Travail Glücksbringer verteilen. In vielen Ländern werden wieder Mai Nelken und Maibändel angesteckt, und unzählige rote Fahnen wehen dann über den Umzügen.
Im Grunde genommen, wird einem bewusst, repräsentieren die Mai Nelke und ihre Farbe nur eine bestimmte Haltung. Und zwar, stellte ich mir vor, wäre sie in jeder Generation äusserst lebendig und, vor allem auch, anderen Einstellungen zum Leben stets überlegen. Es wäre somit eine Haltung des Bewusstseins, unvoreingenommen und undogmatisch durch die Welt zu gehen. Ohne Vorurteile, aber in Bezug auf die sozialen Widersprüche, die menschliche Entwicklung und eine gefährdete Umwelt doch immer mit einem klar definierten, eigenen Standpunkt. Und einem Engagement im Sinne der Geschichte des 1. Mai oder, wie ein Denker es einmal formuliert hat: Die gefährlichste Welt-Anschauung ist die Welt-Anschauung der Leute, welche die Welt noch nicht angeschaut haben.
Auf diese Weise ist mir die Mai Nelke – ähnlich der Erinnerung an meinen Vater und an meine Mutter – gleichsam zu einer Bedeutungsträgerin geworden, weil ja Blumen schliesslich auch sprechen und Hände doch erzählen können.
Anmerkungen:
Werner Wüthrich, 1947 in Ittigen bei Bern als Sohn eines Pachtbauern geboren, studierte an der Universität Wien Theaterwissenschaften, Germanistik und Philosophie. Seit 1972 freiberuflicher Theaterautor und Schriftsteller. Doron-Preisträger 2004. Werner Wüthrich ist auch als Dozent von Schreib-Werkstätten, Theaterkursen und als Brecht-Forscher bekannt geworden.
Zuletzt sind von Werner Wüthrich die Bücher „1948 – Brechts Zürcher Schicksalsjahr“ (Chronos Verlag Zürich), „Emil Zbinden“ (Limmat Verlag Zürich) und die längere Erzählung „Zimmerwald“ im Sammelband „Die sie Bauern nannten“ (Verlag Huber Frauenfeld) erschienen.