Das Koalitionsrecht, das heisst das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung und auf gewerkschaftliche Betätigung, gehört wie das Verbot der Kinder- und der Zwangsarbeit zum fundamentalen Kern der Arbeitsrechte. Diese gelten weltweit unabhängig davon, ob sie von den Staaten anerkannt werden oder nicht. Die Schweiz ist Sitzstaat der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Sie hat die Koalitionsfreiheit sowohl in der Verfassung (Art. 28 BV) wie auch durch die von der ihr ratifizierten internationalen Konventionen anerkannt. Für die Schweiz gelten die UNO-Menschenrechtspakte und die Europäische Menschenrechtskonvention genauso wie die Übereinkommen 87 und 98 der ILO. Alle diese Regelwerke gewährleisten das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung und Betätigung.
Auf dem Hintergrund dieser Rechtslage verstösst die Kündigung der Gewerkschaftsdelegierten Marisa Pralong wegen ihrer gewerkschaftlichen Betätigung gegen elementare Grundrechte, die in jeder Demokratie gewährleistet sein müssen. Sie berührt deshalb nicht nur die individuellen Interessen von Marisa Pralong. Sie ist gleichzeitig ein flagranter Angriff auf das Recht der gewerkschaftlichen Betätigung. Und ein Angriff auf die Gewerkschaften und die Interessenvertretung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schlechthin, die zum Schutz ihrer Arbeitsbedingungen auf Gewerkschaften angewiesen sind. Die Kündigung von Marisa Pralong muss deshalb zurückgenommen werden.
Diese Forderung gilt auch dann, und erst recht, wenn der Kündigungsschutz für Gewerkschaftsdelegierte im schweizerischen Gesetzesrecht, dem OR, nur ungenügend ausgestaltet ist. Die Grundrechte – und damit die Koalitionsfreiheit – sind auch dann gültig, wenn das OR keinen ausreichenden Kündigungsschutz vorsieht, der in diesen Fällen nur die Aufhebung der grundrechtswidrigen Kündigung bedeuten kann. Weil das interne schweizerische Arbeitsrecht den Schutz gegen antigewerkschaftliche Kündigungen nicht gewährleistet, hat der Schweizerische Gewerkschaftsbund im Jahre 2003 zum ersten Mal in seiner Geschichte beim Ausschuss für Vereinigungsfreiheit der ILO eine Klage eingereicht. Im November 2006 hiess der Ausschuss die Klage gut und forderte die Schweiz auf, bei gewerkschaftsfeindlichen Kündigungen einen Kündigungsschutz zu gewährleisten, der analog zu Kündigungen wegen Geschlechtsdiskriminierung die Aufhebung der Kündigung und die Wiedereinstellung vorsieht. Die weiteren Folgen dieser Klage sind nach wie vor offen.
Sollte die grundrechtswidrige Kündigung von Marisa Pralong nicht zurückgenommen werden, so werden wir nicht zögern, diesen neuen Angriff auf die Gewerkschaftsfreiheit dem Ausschuss für Vereinigungsfreiheit zu unterbreiten. Wer wie die schweizerischen Behörden behauptet, dass gewerkschaftsfeindliche Kündigungen in der Schweiz kein praktisches Problem seien, wird sich dann eines Besseren belehren lassen müssen. Dies wird umso besser möglich sein, als die ILO (und dessen Ausschuss für Vereinigungsfreiheit) ja in Genf tagt.
Die antigewerkschaftliche Kündigung von Marisa Pralong fällt in eine Zeit, in der nun endlich auch in den USA eingesehen worden ist, dass die systematische Degradierung der Arbeitsrechte (und der Löhne), die auf die Schwächung der Gewerkschaften zurückzuführen ist, nicht nur sozial, sondern auch volkswirtschaftlich mörderisch ist. Zum Wahlprogramm von Obama, der deshalb von Walmart millionenschwer bekämpft worden ist, gehörte die Verabschiedung des „Employee Free Choice Act“ (EFCA). Wenn in der Schweiz ein Konzern glaubt, er könne die gewerkschaftlichen Grundrechte so mit Füssen treten, wie es jetzt mit Marisa Pralong geschehen ist, hat er sich gewaltig getäuscht.