Geschlagene neun Stunden musste der Nationalrat in der Sommersession über die sogenannte "Selbstbestimmungsinitiative" der SVP debattieren. Weil die SVP die Debatte nutzen wollte, um in der Öffentlichkeit ihre Mär von den "fremden Richtern" breitzuwalzen, mit Marionetten und Klebband und ewig gleichen Fragen. Ob diesem Wahlkampf-Spektakel ging unter, dass die SVP viel mehr als nur Wahlkampf betreiben will. Ziel der Initiative ist nichts anderes als die Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Die SVP will mit der geplanten Verfassungsänderung angeblich die Souveränität der Schweiz stärken. So sollen die Bundesverfassung über das Völkerrecht gestellt und völkerrechtliche Verträge, die einer Verfassungsbestimmung widersprechen, gekündigt werden. Was nach Souveränität tönt, ist eine krasse Schwächung unserer individuellen Grundrechte.
Blenden wir kurz zurück: Eigentlicher Auslöser für die Lancierung der Initiative war ein Urteil des Bundesgerichts aus dem Jahr 2012, wonach die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht nur den Bundesgesetzen, sondern auch der Bundesverfassung vorgehe. Selbstverständlich sind Grund- und Menschenrechte universell, gehen also vor jedem Gesetz und jeder Verfassung. Doch das passt der SVP nicht. Sie stellt immer wieder Forderungen, welche die Grundrechte in Frage stellen. Und da stören die EMRK und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), die alle Menschen in der Schweiz vor Verletzungen ihrer Grundrechte schützen.
Dabei geht es nicht einfach um den Schutz von Minderheiten. Denn hinter der Initiative steht in letzter Analyse nicht nur eine menschenrechtsfeindliche Politik, sondern auch ein direkter Angriff auf alle Arbeitnehmenden in der Schweiz: Angestellte sind zur Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber den Arbeitgebern auf ein gut funktionierendes Menschenrechtssystem angewiesen. Dabei spielt das Völkerrecht eine zentrale Rolle.
Die EMRK und das Völkerrecht der Uno-Organisation für Arbeit (ILO) garantieren allen Arbeitnehmenden diverse Rechte. Etwa das Recht, sich im Betrieb zu organisieren und Informationen auszutauschen. Oder den Schutz vor Kündigung, nur weil jemand gewerkschaftlich aktiv ist. Oder die Garantie, dass Gewerkschaften eine Belegschaft am Arbeitsplatz besuchen und beraten darf. Und nicht zuletzt den Schutz von Whistleblowern.
Aber auch die Gleichbehandlung von Frauen und Männern in den Sozialversicherungen wird so gesichert. Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg hat dazu ein wegweisendes Urteil für die Schweiz erlassen - und damit die Rentenansprüche einer jungen Mutter verbessert.
Fazit: Von einer Annahme der Initiative wären die EMRK und 43 ILO-Konventionen betroffen, die uns Arbeitnehmenden zentralen Schutz gewähren. Denn in der Schweiz gibt es kein Verfassungsgericht das einschreitet, wenn Bundesgesetze unsere durch die Grundrechte geschützten Freiheiten verletzen. Deshalb ist gemäss der heutigen Verfassung auch Völkerrecht wie das EMRK- oder das ILO-Recht massgebend. So übernimmt das von der Schweiz ratifizierte Völkerrecht diese Schutzfunktion. Denn das Völkerrecht via EMRK und ILO-Konventionen garantiert weitgehend die gleichen Grund- und Menschenrechte wie unsere Verfassung.