Kaum eingeführt, haben Bundesrat, Bundesamt für Gesundheit (BAG) und das Seco den Schutz besonders gefährdeter Arbeitnehmender vor dem Coronavirus massiv reduziert. Damit gefährden sie die Gesundheit und das Leben Tausender. Angst und Verunsicherung am Arbeitsplatz sind die Folge.
Die Botschaft war klar und fadengerade: Am 16. März ergänzte der Bundesrat die Verordnung 2 über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus (COVID-19-Verordnung 2) mit einem Abschnitt zum Schutz besonders gefährdeter Personen. Sie «sollen zu Hause bleiben und Menschenansammlungen meiden» (Art. 10b). Und sie arbeiten «von zu Hause aus. Ist dies nicht möglich, so werden sie vom Arbeitgeber unter Lohnfortzahlung beurlaubt» (Art. 10c).
Das Fortschreiten der Coronavirus-Pandemie zwingt den Bundesrat, die Verordnung immer wieder der aktuellen Situation anzupassen. Die letzte grosse Aktualisierung erfolgte am 20. März mit dem Verbot von Ansammlungen von mehr als fünf und Massnahmen zur Abfederung des Erwerbsausfalls.
Keine Rede war in der Medienmitteilung des Bundesrates von einer weiteren Änderung: Im Artikel 10c, Abs. 2 heisst es plötzlich, besonders gefährdete Personen, die ihre Arbeit nicht zu Hause, sondern nur am Arbeitsplatz erledigen können, dürfen dort arbeiten, wenn der Arbeitgeber «mit geeigneten organisatorischen und technischen Massnahmen die Einhaltung der Empfehlungen des Bundes betreffend Hygiene und sozialer Distanz» garantiere. Nur falls dies nicht geht, werden sie mit Lohnfortzahlung beurlaubt. Mit dieser Kehrtwende nach nur vier Tagen gefährden Bundesrat und BAG die Gesundheit und das Leben Tausender besonders gefährdeter Arbeitnehmender aller Branchen.
Der Gummiparagraph hält nicht einmal fest, welche «Massnahmen» ergriffen werden müssen und wie sich diese von den üblichen unterscheiden. Zur Erinnerung: für besonders gefährdete Personen besteht die Empfehlung, ÖV möglichst zu meiden, sowie die Aufforderung des BAG, das Haus nicht zu verlassen, ausser für lebensnotwendige Tätigkeiten wie Arztbesuche oder Einkauf von Nahrungsmitteln. Nun sollen sie plötzlich wieder ins Büro, auf die Baustelle oder an die Migros-Kasse arbeiten gehen?
In der Praxis öffnet der neue Absatz 2 dem Missbrauch Tür und Tor: Arbeitgeber werden mit Alibi-Massnahmen besonders gefährdete Arbeitnehmende zur Arbeit vor Ort (Bau, Detailhandel, Büros) oder gar im Aussendienst (Spitex, Reinigung) zwingen. Daraus werden Rechtstreitigkeiten und grosse Unsicherheit entstehen. Aber vor allem besteht die Gefahr, dass sich besonders vulnerable Arbeitnehmende am Arbeitsplatz oder dem Arbeitsweg mit dem Coronavirus anstecken, weil sie gezwungen wurden, zur Arbeit zu erscheinen, statt im Homeoffice zu bleiben oder aus medizinischen Gründen beurlaubt zu werden.
Die neue Bestimmung wurde auf Wunsch von Arbeitgebern und ohne jegliche Konsultation von Arbeitsmedizinern oder Gewerkschaften eingeführt und muss sofort wieder gestrichen werden. Sie gefährdet nicht zuletzt das grundsätzliche Vertrauen in die Massnahmen des Bundes für die Arbeitswelt. Der SGB fordert die zuständigen Bundesräte Alain Berset und Guy Parmelin auf, sofort zu handeln und zum ursprünglichen Wortlaut zurückzukehren. Für besonders gefährdete Arbeitnehmende darf es nur die Optionen Homeoffice oder Beurlaubung geben. Ausserdem dürfen derart gravierende Entscheide im Bereich des Gesundheitsschutzes nicht mehr ohne vorherige Konsultation der Gewerkschaften getroffen werden.