Arbeitende Menschen haben diese Verachtung nicht verdient

  • Löhne und Vertragspolitik
Artikel
Verfasst durch Pierre-Yves Maillard

Redebeitrag von SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard an der Medienkonferenz zum Angriff auf die kantonalen Mindestlöhne

Der Präsident der FDP behauptet, er wolle sich für diejenigen einsetzen, die früh am Morgen aufstehen, um zur Arbeit zu gehen.
Es wäre grossartig, wenn das zutreffen würde.

Doch in der Realität setzt sich seine Partei dafür ein, dass all diejenigen, die früh aufstehen, um Vollzeit arbeiten zu gehen, nicht einmal einen Lohn erhalten, der den Mindeststandards der Sozialhilfe entspricht. 42 Stunden pro Woche, 180 Stunden pro Monat zu arbeiten, soll demnach nicht einmal sicherstellen, dass am Ende des Monats mehr Geld auf dem Konto ist als bei denjenigen, die keine Arbeit haben.

Sich für diejenigen stark zu machen, die früh aufstehen, um zur Arbeit zu gehen, ist populär. Aber was ist das Wort eines Parteipräsidenten wert, wenn seine Partei eine Gesetzesrevision verabschiedet, die dieses einfache Prinzip in Frage stellt: Vollzeitarbeit muss ein besseres Leben ermöglichen als gar nicht zu arbeiten. Wird dieses Prinzip nicht respektiert, wird es in der Praxis sogar bekämpft, sollte man nicht sagen, dass man für diejenigen kämpft, die früh aufstehen, um arbeiten zu gehen. Wer derart heuchelt, sollte sich schämen!

Die Gewerkschaften setzen sich dafür ein, dass diejenigen, die nicht arbeiten können, gemäss den Grundsätzen unserer Verfassung ein Einkommen haben, das zum Leben reicht. Und wir schliessen manchmal Gesamtarbeitsverträge mit Einstiegslöhnen ab, die unter den sozialen Standards liegen, weil die Löhne ohne diese Standards noch niedriger wären. Doch wenn der Gesetzgeber sowohl Sozialhilfestandards als auch den Mindestlohn festlegt, darf Letztgenannter nicht niedriger sein. Wir wollen, dass sich Arbeit lohnt!

Das Bundesgericht erlaubte den Kantonen, einen Mindestlohn festzulegen, sofern dieser den Sozialstandards, die das Existenzminimum garantieren, gleichwertig sei. Es war der Ansicht, dies sei ein wirtschaftlicher und liberaler Weg, um die öffentlichen Finanzen zu schützen und das würdige Leben für alle zu sichern, das in der Verfassung garantiert wird.

Dieses Recht wurde den Kantonen eingeräumt und einige machten davon Gebrauch. Sie haben Gesetze erlassen, meist hat sogar das Volk darüber abgestimmt. Und in einigen Kantonen, vielleicht bald auch in einigen Städten, ist dieses Recht in Kraft.

Die SVP führt derzeit eine Kampagne, mit der sie angeblich unsere direkte Demokratie retten will, die durch die neuen Abkommen mit der Europäischen Union bedroht sei. Das wird eine spannende Debatte werden. Aber was ist das Wort dieser Partei wert, wenn sie sich gleichzeitig anschickt, den klar zum Ausdruck gebrachten Volkswillen für einen Mindestlohn, beispielsweise in Genf, zu annullieren? Welche Rechtfertigung gibt es, den Volksentscheid dieses Kantons durch ein Bundesgesetz zu annullieren? Wen beeinträchtigt es in Obwalden, Zug oder Zürich, dass das Volk in Genf für einen Mindestlohn gestimmt hat?

Die Antwort lautet: Niemanden, gar niemanden! Ein Grundprinzip unserer Schweizer Demokratie ist der Föderalismus. Es besteht darin, Entscheidungen, die den anderen Eidgenossen nicht schaden, auf der Ebene zu belassen, die den Bürger:innen am nächsten ist. Welchen Wert hat der Einsatz der SVP für die direkte Demokratie, wenn sie gleichzeitig die souveräne und demokratische Entscheidung des Volkes eines Kantons angreift?

Auch hier sollte sich für diese Heuchelei geschämt werden!

Die Mitte steht dem in Nichts nach, da diese Gesetzesrevision auf einen Antrag eines ihrer Mitglieder zurückgeht. Was hören wir nicht alles an Warnungen oder Protesten von den gewählten Vertreter:innen dieser Partei, wenn einem Projekt die verfassungsrechtliche Grundlage fehlen könnte? Aber bei dieser Gesetzesrevision, die es ermöglichen würde, von den kantonalen Mindestlöhnen abzuweichen, gibt es keine Skrupel, unsere Verfassung und ihre Grundsätze mit Füssen zu treten.

Eine solche kollektive Heuchelei, eine solche Verleugnung der eigenen erklärten Grundsätze findet nicht bei jedem beliebigen Thema statt. Es geht nicht um die Subventionierung der Haltung von Hornkühen oder das Verbot von Minaretten. Es geht um den Wert der Arbeit, um Löhne und das Existenzminimum. Es geht um eine Coiffeuse, einen Kellner in einem Restaurant, eine Verkäuferin in einer Boutique oder eine Pflegefachperson in der Spitex, die alle Vollzeit arbeiten und sich im Supermarkt fragen, ob sie die zwei Schalen Erdbeeren und die Scheibe Rindfleisch für das Familienessen kaufen können.

Wir fordern diese Regierungsparteien auf, sich zusammenzureissen und auf diesen Ausdruck der Verachtung für diejenigen, die früh aufstehen, um hart zu arbeiten, zu verzichten.

Zuständig beim SGB

Daniel Lampart

Co-Sekretariatsleiter und Chefökonom

031 377 01 16

daniel.lampart(at)sgb.ch
Daniel Lampart
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