November 1982: Das Fernsehen überträgt live wie Leonid Breschnew, langjähriger Staatschef der Sowjetunion, zu Grabe getragen wird. Es ist kalter Krieg und bei uns im Westen gibt es nur Wenige, die wirklich traurig sind. Während der sich hinziehenden Überführung des Sarges zum Roten Platz ertönt Fréderic Chopin's Trauermarsch. Meiner Grossmutter laufen die Tränen an den Wangen hinunter. Die Musik hat aus dem Klassenfeind wieder einen Menschen gemacht.
Musik trifft uns in der Seele. Sie berührt uns in unserem Innersten. Sie kann uns euphorisch oder todtraurig werden lassen. Sie gibt uns eine Ahnung davon, welche emotionalen Tiefen zu uns gehören. Die Musik ist wohl die Wesentlichste aller Künste, welche den Menschen ausmachen, welche ihn "vom Affen" unterscheiden, wie es Nikolaus Harnoncourt ausdrückt.
Werfe ich hin und wieder von meinem Platz im Orchestergraben oder von der Bühne einen Blick ins Publikum, bin ich berührt von ergriffenen Gesichtern, die mitgerissen vor Begeisterung oder mit Tränen in den Augen der Musik und dem Gesang der tragischen Helden und der Primadonnen folgen. Wie oft bin ich selbst im Innersten getroffen, erklingen Töne und Harmonien schier unerträglicher Schönheit.
Unbestritten gehören viele musikalische Werke zu den Höchstleistungen der menschlichen Kreativität. Ihr Erklingen ist verbunden mit den erforderlichen Höchstleistungen der Ausführenden, die das Erdachte immer wieder neu in lebendige Musik umsetzen. Ein Vorgang, welchem – im Moment verfolgt und miterlebt – so immense Faszination innewohnen kann. Dennoch – die ernste Musik, sie hat es nicht einfach, sie kämpft einen schweren Kampf: Sie erfordert von uns Zeit. Sie benötigt Ruhe. Sie verlangt Konzentration. Und steht damit zunehmend quer in der heutigen Landschaft.
Die Bereitschaft und der Wille unserer Gesellschaft, sich dieses kulturelle Erbe zu erhalten, unsere kulturellen Wurzeln nicht der schnelllebigen Rentabilität zu opfern, sind immer noch sehr gross. Wir subventionieren ein hochstehendes Konzert- und Musiktheater-Leben, unterhalten erstklassige Musikhochschulen und unterstützen in fast allen Gemeinden mit Musikschulen den privaten Instrumentalunterricht.
Zu seinem 100-Jahr-Jubiläum haben sich die im Schweizerischen Musikerverband (SMV) organisierten Berufsmusiker und -musikerinnen dafür mit einem Festkonzert im Zürcher Opernhaus bei der Bevölkerung bedankt. Das Konzert war gratis, wartete aber mit schwerem Programm auf: Ravel, Othmar Schoeck, Richard Strauss. Die über 1000 Karten waren alle am ersten Tag vergeben – welch ein Zeichen für das Bedürfnis nach authentischem musikalischem Erleben.
Diesem Umstand zum Trotz setzen allfällige Rotstifte in mageren Zeiten gerne zu allererst bei den Kulturbudgets an und bringen manche den Künsten verbundene Institution in existentielle Bedrängnis. Dieses vielfältige kulturelle Vermächtnis zu erhalten, sich für die Rechte der Berufsmusiker und Berufsmusikerinnen einzusetzen und dafür, dass diese von ihrem Beruf leben können, dem hat sich der SMV seit nunmehr 100 Jahren verschrieben. Ein wirklich stolzes Jubiläum!
Hoffen wir, dass die Musik – sei es sie im Konzertsaal zu erleben oder sie selbst auszuüben – weiterhin ihren hohen Stellenwert beibehält. Denn, so brachte es der Chefdirigent des Berner Sinfonieorchesters Mario Venzago anlässlich des Festkonzerts auf den Punkt: "Ich möchte nicht in einer Stadt ohne Musik wohnen. Eine solche Stadt ist unbewohnbar."
Urs Dengler (Orchestermusiker am Opernhaus Zürich)