Gastblog von David Gallusser:
Heute hat das World Inequality Database (https://wid.world/) ihren neuen Bericht zur weltweiten Ungleichheit publiziert. Sie haben dabei auch neue Zahlen zur Einkommens-Ungleichheit in der Schweiz veröffentlicht. Der Tages-Anzeiger (https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz-warum-ungleichheit-beim-einkommen-nicht-zunimmt-537783032377d) hat die Zahlen aufgegriffen.
Glaubt man den neuen Schätzungen, ist die Ungleichheit in der Schweiz gesunken. Das steht allerdings im Widerspruch zu zahlreichen anderen Quellen, welche die Einkommensungleichheit in der Schweiz beschreiben:
- Frühere Schätzungen des World Inequality Lab zeigten eine in den vergangenen Jahren steigende Konzentration der Einkommen bei den hohen Einkommen: https://wid.world/document/technical-appendix-to-why-is-europe-more-equal-than-the-united-states-world-inequality-lab-wp-2020-19/
- Selbst der von Vermögenden finanzierte Think-Tank IWP zeigt eine steigende Konzentration der Einkommen (gemessen mit Steuerdaten) in den vergangenen 30 Jahren: https://www.iwp.swiss/der-verteilungsradar-2024-vermisst-die-ungleichheit-in-der-schweiz/
- Der Anteil der Löhne, welche das oberste Prozent bezieht, ist basierend auf Lohndaten der AHV in den letzten 40 Jahren stark gestiegen. 1982 vereinten die Topverdienenden 5.2 Prozent aller Löhne, 2023 waren es 8.4 Prozent.
- Auch die Lohnschere bei den Stundenlöhnen bzw. standardisierten Bruttolöhnen ist gemäss Lohnstrukturerhebung des Bundesamts für Statistik (BFS) grösser geworden. Zwischen 1996 und 2024 ist der mittlere Lohn (Median) teuerungsbereinigt um 19 Prozent gestiegen. Dagegen ist der «hohe Lohn» (10 Prozent verdienen mehr) um 29 Prozent gestiegen. Der «sehr hohe Lohn» (1 Prozent verdient mehr) legte sogar um 63 Prozent zu.
- Gemäss der SILC-Erhebung des BFS beobachten wir auch bei den verfügbaren Einkommen eine wachsende Kluft zwischen oben und unten (https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/wirtschaftliche-soziale-situation-bevoelkerung/soziale-situation-wohlbefinden-und-armut/ungleichheit-der-einkommensverteilung/einkommensverteilung.assetdetail.34487009.html).
- Schliesslich nimmt die Konzentration der Vermögen bei den Reichsten immer weiter zu (https://wid.world/country/switzerland/). Man muss deshalb erwarten, dass auch die Kapitaleinkommen stärker konzentriert sind.
Die World Income Database (WID) kommt im Wesentlichen aufgrund ihrer Methode zu einem gegenteiligen Schluss.
Sie schätzt, um internationale Vergleich erstellen zu können, die Verteilung des sogenannten «Nettonationaleinkommen» (= Einkommen, die Schweizer Bevölkerung und Firmen im In- und Ausland beziehen). Das Nationaleinkommen ist eine Grösse der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR). Leider macht die VGR keine Angaben über dessen Verteilung. Um sie herzuleiten, verwendet das WID unter anderem die Umfragen-Daten der SILC und Steuerdaten. Zudem muss sie eine Reihe von Annahmen treffen, um die unterschiedlichen Einkommensdefinitionen und Mängel in den Daten zu überbrücken.
Entscheidend dürften vor allem die Annahmen zu den Einkommen aus Kapitalgewinnen sowie aus Gewinnen von Unternehmen, sein, die einbehalten und nicht ausgeschüttet werden. Diese zu messen ist notorisch schwierig. Das gilt besonders für ein Tiefsteuerland wie die Schweiz, wo Konzerne Gewinne hin und wieder weg verschieben. Selbst die Schätzungen zur Höhe des Nettonationaleinkommens ingesamt dürften deshalb nicht über jeden Zweifel erhaben sein.
Leider lässt der vereinfachte Ansatz, den die WID gewählt hat, keine besseren Aussagen zu. Eine Forschungsgruppe der KOF der ETH (https://x.com/eneabaselgia/status/1998423546998222949) hat sich deshalb daran gemacht, die Verteilung des Nettonationaleinkommens in der Schweiz besser zu schätzen. Sie verwenden eine genauere Methode als die WID heute. Und auch sie beobachten gemäss ersten Ergebnissen keine sinkende Ungleichheit.