Der Gang in die EU-Hauptstadt Brüssel war vor10 Jahren eine Qual. Als Schweizer Delegierter im Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) erlebte ich an den Treffen die verheerenden Auswirkungen der neoliberalen Politik der EU. Die Finanzwirtschaft hatte 2008 den Kapitalismus an die Wand gefahren, und wir frohlockten schon über das Ende des Neoliberalismus. Diesem gelang es aber, aus einer Bankenkrise eine Krise der Staatsschulden zu machen. Der EGB schlug Alarm: 2012 demonstrierten eine Million Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter in Berlin, Madrid und Prag und riefen: «Wir bezahlen eure Krise nicht.» Trotz Grossmobilisierungen mussten die Lohnabhängigen aber teuer bezahlen: 20 Millionen Arbeitslose, sinkende Reallöhne, amputierter Service public. Ich erinnere mich an den erschütternden Bericht der griechischen EGB-Delegierten: mittellose Kranke würden nun von Spitälern abgewiesen. Es war eine Qual, auch wegen der Machtlosigkeit der Gewerkschaften.
Bumerang
Für die EU-Spitze wurde diese Politik jedoch zum Bumerang. Sie verzögerte den wirt-schaftlichen Wiederaufschwung, setzte den Zu-sammenhalt der Mitgliedstaaten aufs Spiel, und vor allem diskreditierte sie die EU bei den Bürgeinnen und Bürgern. Profiteure waren die rechten Nationalisten. «Ist Europa noch zu retten?» fragten sich auch meine Gewerkschaftskolleginnen und -kollegen.
Soziale Säule
Am EGB-Kongress 2015 in Paris erklärte der damalige Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, die EU brauche eine soziale Wende, sonst zerbreche sie. Wir Gewerkschaften nahmen ihm das zuerst nicht ab. Ein Jahr später verkündete die Kommission den Plan einer «Säule der sozialen Rechte». Viele sahen auch darin «warme Luft». Der EGB nahm die Kommission aber beim Wort und machte Druck. Erste kleine Fortschritte gab es 2018: Zum Beispiel eine «Job- oder Ausbildungsgarantie» für arbeitslose Jugendliche oder die Schaffung einer europäischen Arbeitsbehörde.
Unischere Wende
Richtig vorwärts ging es aber erst 2019 mit dem neuen EU-Parlament und der neuen EU-Kommission. Junckers Nachfolgerin Ursula von der Leyen versprach im Rahmen der «sozialen Säule» Löhne, die zum Leben reichen. Nun gab’s Streit im EGB: Die nordischen Gewerkschaften wollten die EU bei den Löhnen raushalten. Esther Lynch, die heutige Generalsekretärin des EGB, entwickelte eine andere Strategie: «Im Bahnhof steht jetzt ein Zug, der Richtung Mindestlöhne abfahren kann. Da wollen wir in der Lok dabei sein. Und wir hängen noch einen Wagen an, die Stärkung der Kollektivverträge.»
Diese kluge Strategie setzte sich nicht nur im EGB durch, sondern in allen Instanzen der EU. Eine soziale Wende zeigte sich auch bei weiteren EU-Richtlinien: Konzernverantwortung, Plattformarbeit, gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Eine günstige Konstellation der politischen Kräfteverhältnisse machte diese Wende möglich. Das kann sich aber bereits bei den nächsten Europa-Parlamentswahlen wieder ändern. Noch ist das Soziale in der EU nicht gesichert. Es bleibt wacklig, solange in der EU-Verfassung und in den EU-Verträgen die Freiheit des Binnenmarktes oberste Norm ist.
Mit dieser Kolumne verabschiedet sich Andreas Rieger nach über 7 Jahren und rund 147 Kolumnen vom Europa Blog. Der SGB bedankt sich ganz herzlich für den immer wieder überraschenden und ungetrübten gewerkschaftlichen Blick nach Europa. Ab März 2023 wird Roland Erne an dieser Stelle über Europa schreiben.