Neue soziale Standards

Blick nach Europa
Verfasst durch Roland Erne

EU-Mindestlohnrichtline III

Was bringt die neue EU-Mindestlohnrichtline für Beschäftigte in der Schweiz? Vorerst nichts, denn die EU-Kommission verlangt nicht, dass die Schweiz das Arbeitsrecht der EU übernimmt. In den bilateralen Verträgen mit der EU geht es um den gegenseitigen Marktzugang und nicht um die sozialen Leitplanken, die eigentlich auch zum EU-Binnenmarkt gehören. Das ist ein Konstruktionsfehler. Und deshalb gibt es die flankierenden Massnahmen zum Lohnschutz.

Die EU-Mindestlohnrichtlinie ist dennoch wichtig für alle Menschen, die in der Schweiz arbeiten, denn sie setzt neue soziale Standards, die weit über die EU-Grenzen hinauswirken. Besonders im Bereich der Gesamtarbeitsverträge (GAV). Verlangt doch die EU-Richt­linie, dass 80 Prozent aller Beschäftigten einen GAV haben. Die Schweiz müsste also doppelt so vielen Beschäftigten einen GAV garantieren. Und der neue EU-Referenzwert für angemessene Mindestlöhne entspricht in etwa der Höhe des gesetzlichen Mindestlohns in Genf.

Trendumkehr

Nachdem neoliberale Politikerinnen und Politiker jahrzehntelang den GAV schlechtgeredet haben, läutet die EU-Richtlinie eine weltweite Trendumkehr ein. Den Anfang machte mit Australien ausgerechnet ein neoliberales Land, das kaum weiter von Brüssel entfernt sein könnte. Wäre die EU nicht mit gutem Beispiel vorangegangen, hätte der australische Senat vor kurzem kein «Fair Work»-Gesetz verabschiedet, das firmenübergreifende GAV stärkt.

Zudem verlangt die neue EU-Richtlinie nicht nur angemessene Mindestlöhne und mehr GAV, sondern auch einen besseren Lohnschutz. Dies ist wichtig, da recht haben und recht bekommen nicht dasselbe ist, besonders am Arbeitsplatz. Wie in der Schweiz erlaubt nun auch die EU-Richtlinie Konventionalstrafen gegen Firmen, die keine GAV-Löhne zahlen. Zudem können die Behörden bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen Firmen ausschliessen, die sich nicht ­an gesetzliche Mindestlöhne und GAV-Löhne halten. Auch müssen Arbeit­geber den Gewerkschaften künftig ­den Zugang auf das Firmengelände ­erlauben.

Gummiparagraph

Dennoch müssen nationale Lohnschutzmassnahmen laut der EU-Richtlinie weiterhin nicht nur «effektiv» und «abschreckend» sein, sondern auch «verhältnismässig». Dank diesem Gummiparagraphen besitzen Arbeitgeber und EU-Kommission auch künftig Mittel, um allzu re­striktive Lohnschutzmassnahmen vor dem Europäischen Gerichtshof auszuhebeln. Deshalb werden Beschäftigte in der Schweiz auch künftig auf eigenständige, flankierende Massnahmen zum Lohnschutz angewiesen sein.

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