Pierre-Yves Maillard
 

1848 und 1948: Die Schweiz wird demokratisch, dann sozial

  • Schweiz
Artikel
Verfasst durch Pierre-Yves Maillard

Rede von Pierre-Yves Maillard anlässlich des 1. August 2023

2023 feiern wir die Jahrestage von zwei für unser Land prägenden Ereignissen.

1848, vor 175 Jahren, wurde die  Schweiz zur ersten Demokratie Europas. Dazu waren mehrere kantonale Revolutionen und sogar ein kurzer Bürgerkrieg – der berühmte Sonderbundskrieg – nötig.

Im Sonderbundskrieg stehen sich die konservativen katholischen Kantone und die liberalen protestantischen Kantone gegenüber. Letztere haben gerade die alteingesessenen Patrizierfamilien in den grossen Städten von der Macht vertrieben und deren Privilegien abgeschafft. Nach dem Sieg der revolutionären Kräfte wird zwar noch kein generelles Wahlrecht eingeführt, da nur Männer wählen dürfen, aber mit den Sonderrechten der Oberschicht ist es vorbei.

1877 ist diese junge Demokratie die erste, die die Arbeitszeit in den Fabriken begrenzt und die Arbeit von Kindern unter 14 Jahren verbietet: Eine Verfassungsänderung räumt dem Staat das Recht ein, die Wirtschaftsfreiheit zum Wohle der Allgemeinheit zu beschränken. In den Jahrzehnten nach 1848 gilt die Schweiz in ganz Europa als Demokratiemodell. Karl Marx ist voll des Lobes und der österreichische Staatskanzler Metternich befürchtet, dass es sich ausbreitet und unser Land zu einem Zufluchtsort für Revolutionäre wird.

Die rasche Entwicklung von Industrie und Freihandel beschert der Schweiz einen immer grösseren Reichtum, aber einen, der immer ungleichmässiger verteilt ist. Die zunehmenden Ungleichheiten und die wirtschaftliche Unsicherheit belasten die massiv wachsende Arbeiterschaft. Es gibt weder ein Rentensystem noch sozialen Schutz gegen das Risiko von Unfällen, Krankheit oder Arbeitslosigkeit. Gibt es keine Arbeit, dann leiden Kinder und Eltern in einer Arbeiterfamilie Hunger.

Daher werden Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Gewerkschaften gegründet. 1880 schliessen sie sich im Schweizerischen Gewerkschaftsbund zusammen. Sie fordern einen sozialen Schutz für die Arbeiterschaft. Da sie im Parlament nicht ausreichend vertreten sind, unterstützen und organisieren die Gewerkschaften Streiks. 1918 rufen sie sogar zum Generalstreik auf, um für ein gerechteres politisches System und soziale Rechte zu kämpfen. Zu den Hauptforderungen gehört die Einführung einer Rentenversicherung.

Der Generalstreik wird rasch und hart von der Armee niedergeschlagen und die Forderungen bleiben zunächst unerfüllt. Die freisinnige Mehrheit ist jedoch gezwungen, für die Nationalratswahlen die Proporzwahl zuzulassen – mit dem Ergebnis, dass im Jahr 1919 die Sozialdemokraten ihren Sitzanteil im Parlament fast verdoppeln können. Und 1925 wird die AHV in ihrem Grundsatz in der Verfassung verankert.

Nach einem ersten erfolglosen Versuch, ein äusserst minimalistisches Projekt einzuführen, wurde die Altersversicherung tatsächlich erst 1948 verwirklicht. Das war vor 75 Jahren, exakt 100 Jahre nach der Gründung der modernen und demokratischen Schweiz. 1948 ist darum das zweite Datum, dessen Jahrestag wir heute feiern.

Bei der Volksabstimmung im Jahr 1947 argumentieren die Gegner der Altersversicherung wie immer mit Angst. In ihrer Kampagne prognostizieren sie den Bankrott der AHV bis Ende der 1960er Jahre... Aber ihre Angstmache funktionierte nicht mehr, und sie erlitten eine massive Niederlage. Obwohl die Zahl der Rentnerinnen und Rentner Ende der 1960er-Jahre bereits explosionsartig angestiegen ist, ist die AHV nicht bankrott. Im Gegenteil: Das Parlament ist der Meinung, dass die Renten nicht zum Leben reichen. Und es verdoppelt sie sogar durch zwei Revisionen! Zuvor wurde das Rentenalter der Frauen bereits um drei Jahre gesenkt.

In den ersten Jahrzehnten der Geschichte der AHV entwickelt sich die Bevölkerungsstruktur ähnlich wie heute. Die Lebenserwartung steigt, die Zahl der Rentnerinnen und Rentner ebenfalls. Doch das stört niemanden. Alle Parteien sind sich einig, dass die Renten zum Leben reichen müssen und dafür ausreichende Beiträge gezahlt werden müssen.

Der Anstieg der Zahl der Rentnerinnen und Rentner wird im Übrigen durch den Eintritt von immer mehr Frauen in den Erwerbsarbeitsmarkt und die steigende Produktivität ausgeglichen. In den 1950er-Jahren geht nicht einmal jede vierte Frau einer Erwerbsarbeit nach und zahlt Beiträge. Man kann deshalb nicht sagen (wie es der Bundesrat heute tut), dass bei der Einführung der AHV sechs Erwerbstätige auf eine Rentnerin/einen Rentner kamen und es heute nur noch drei sind. Dieser Vergleich ist irreführend.

Im Jahre 1948 kamen in der Tat sechs Personen im Alter von 18 bis 65 Jahren auf eine über 65-jährige Person. Aber die Hälfte dieser 18- bis 65-Jährigen waren Frauen. Damals war die überwältigende Mehrheit der Frauen zwar äusserst aktiv, bekam jedoch keinen Lohn und zahlte daher auch nicht in die AHV ein. Sie waren also genauso abhängig wie die Rentnerinnen und Rentner. Will man exakt sein, ist daher folgende Aussage richtig: Bei der Einführung der AHV gab es 3.6 Erwerbstätige im Sinne der AHV, 2.4 Hausfrauen und eine Rentnerin oder einen Rentner.

Betrachtet man die Zahl der bezahlten Jobs im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung, ist zwischen dem Zeitpunkt der Einführung der AHV und heute tatsächlich eine grosse Stabilität zu beobachten, nämlich rund 50 % Beschäftigte in Vollzeitäquivalenten im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung.

Im Laufe der Zeit bildeten sich die Frauen weiter, gingen einer Erwerbstätigkeit nach und zahlten in die AHV ein. Daher stieg die Lohnsumme genauso stark wie der Rentenbedarf. Die Finanzen der AHV blieben solide und erlaubten eine Verbesserung der Renten. Und wenn das nicht ausreicht, um die Renten zu verbessern, können die Beiträge moderat erhöht werden. Das ist nichts anderes als eine Umwandlung von einem Teil des Lohns in die spätere Rente.

Dank dieser Strategie verfügt die AHV auch heute noch über gesunde Finanzen. 2022 schloss sie im Vergleich zu den Renten mit 1,7 Milliarden Überschuss auf der Beitragsseite sowie einem Vermögen von 47 Milliarden ab, dem höchsten ihrer Geschichte. Die Situation wird sich in den nächsten Jahren noch weiter verbessern, da eine Erhöhung der Mehrwertsteuer weitere zwei Milliarden in die Kassen spülen wird. Hinzu kommen die Spareffekte der 2022 nur sehr knapp beschlossenen Erhöhung des Rentenalters der Frauen. Wir verfügen also auch heute über die Mittel, um die Renten endlich wieder zu erhöhen und die Initiative des SGB für eine 13. AHV-Rente anzunehmen, die dem Volk im kommenden Jahr zur Abstimmung vorgelegt wird.

Stellen wir uns jedoch an diesem Nationalfeiertag 2023 die Frage: Weshalb war die Einführung der AHV 1948 überhaupt möglich? Weshalb wurden in den folgenden Jahrzehnten im Konsens Finanzierungslösungen gefunden, um die Renten trotz einer stark steigenden Lebenserwartung zu erhöhen? 

Es ist nicht so, dass die Schweiz damals reicher war als heute. Im Gegenteil, sie war viel stärker verschuldet und nach dem Krieg herrschte eine hohe Arbeitslosigkeit. Es liegt auch nicht am Wachstum des Nachkriegsbooms, denn dieser hatte 1948 noch nicht begonnen und man konnte auch nicht wissen, dass er eintreten wird. Man kann also nicht sagen, dass die AHV und das Sozialversicherungssystem aufgrund des Nachkriegsbooms eingeführt wurden. Wahrscheinlich lässt sich sogar das Gegenteil behaupten: Die Einführung und die Entwicklung des Sozialversicherungssystems haben zum Wachstum der Nachkriegsjahrzehnte beigetragen, indem  sie Ungleichheiten verringert und Kaufkraft an all jene verteilt haben, die zuvor keine besessen hatten.

Richtig ist jedoch, dass die Schweiz und die Welt gerade Schreckliches durchlebt hatten und in ihrer Existenz bedroht waren: Ein entsetzlicher Krieg, der alle Demokratien Europas beinahe ausgelöscht hatte.

Während der Krise des Kapitalismus in den 1930er-Jahren haben sich Hunger und Elend in der Welt ausgebreitet. Sie galten rasch als Ursache für die Krise der europäischen Demokratien, die den faschistischen und nationalsozialistischen Regimes, die den Krieg verursachten, den Weg bereitete. Nach dieser Erfahrung haben viele politische Kräfte und sogar Arbeitgeberverbände endlich begriffen, dass Stimmrecht und die wirtschaftliche Freiheit nicht ausreichen, um einen Menschen sein ganzes Leben lang zu ernähren. Wenn die Menschen ständig in der Angst leben müssen, dass es ihnen am Nötigsten fehlt, verlieren sie das Vertrauen in die Demokratie.

Aus dieser Überzeugung heraus ist die AHV entstanden. Es ist daher naheliegend, zwischen 1848 und 1948 einen Zusammenhang herzustellen. Die Demokratie ist eng mit der sozialen Sicherheit verknüpft. Die Demokratie ist nur dann sicher und nachhaltig, wenn das ganze Volk durch sie eine ganz konkrete soziale Sicherheit erhält und spürt, die es wirksam vor den Risiken des Lebens und der Konjunktur schützt.

Diese Lektion haben unsere Vorgängerinnen und Vorgänger aus der Geschichte gelernt. Doch genau diese Lektion haben viele Eliten aus Wirtschaft und Politik heute vergessen.

Seit zwei oder drei Jahrzehnten machen sie das Sozialversicherungssystem und insbesondere die AHV schlecht und setzen alles daran, sie zu schwächen. Dieses Phänomen findet man in allen westlichen Demokratien. Seither gewinnen die rechtsextremen Kräfte überall in diesen Demokratien langsam, aber sicher an Macht und die Demokratien leiden darunter.  

Indem wir für die soziale Sicherheit kämpfen, wie es bereits unsere Vorfahren getan haben, kämpfen wir auch für die Demokratie. Aus diesem Grund feiern wir heute in Würde diese zwei Daten, die unser Land begründet haben: 1848 und 1948. Und um das Vertrauen des Volkes in unser Land und in unsere Demokratie zu stärken, werden wir im kommenden Jahr für einen Ausbau der AHV durch eine 13. Rente eintreten und eine Senkung der BVG-Renten bekämpfen.

Der Fortschritt eines Landes muss damit einhergehen, dass alle, die in diesem Land arbeiten sowie ihre Kinder stets ein wenig mehr Vertrauen in die Zukunft haben. Deshalb müssen wir endlich den Sinn unserer Schweizer Geschichte wiederfinden, die auf Freiheit, Demokratie und sozialer Sicherheit beruht.

Zuständig beim SGB

Daniel Lampart

Premier secrétaire et économiste en chef

031 377 01 16

daniel.lampart(at)sgb.ch
Daniel Lampart
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